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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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diese veränderte Stimmung nutzen. Aber sie musste es klug anfangen.
    »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Kindheit.« Das war nun der dritte Anlauf, und diesmal klappte es, wahrscheinlich, weil sie Plessen nicht erwähnt hatte.
    »Was wollen Sie denn wissen?«, hatte Helga Kayser gefragt, als ob sie ein wenig begriffsstutzig sei – sie wusste doch, worum und vor allem um wen es ging -, aber Mona hatte nun beschlossen, die Dinge einfach laufen zu lassen und nichts mehr zu erzwingen.
    »Alles«, hatte sie also geantwortet. »Wo und wie Sie gelebt haben. Wie Ihre Kindheit so war.«
    »Und was nützt Ihnen das, wenn Sie das wissen?«
    »Das kann ich noch nicht sagen. Das erkenne ich dann, wenn ich’s höre.«
    »Ich versteh das nicht. Sie machen die weite Reise hierher, damit ich Ihnen was aus dem Jahre Schnee erzähle?«
    Glücklicherweise hatte Mona rechtzeitig erkannt, dass dieses Geplänkel schon Rückzugsgefechte waren. Dass die alte Frau in Wirklichkeit ganz wild darauf war, von sich zu reden. Sie lebte hier seit Jahren einsam vor sich hin, und nun kam endlich jemand und wollte etwas von ihr erfahren. Und nachdem Mona das gedacht hatte, hatte sie auch den Rest verstanden. Immer hatten sich alle nur für Fabian interessiert. Und niemand für die kleine Helga. Also mussten ein paar Umwege über das Thema Helga gemacht werden, damit man das Ziel Fabian erreichte. Umwege kosteten Zeit, aber das war nicht zu ändern.
    »Wie ging es Ihnen so – als kleines Mädchen?«
    Und Helga Kayser war tatsächlich auf die Frage angesprungen, hatte sich zurückgelehnt und angefangen zu berichten: über ein armes Dorf in Brandenburg namens Lestin, wo sie Gemüse anbauten und sich Hühner und zwei Kühe hielten und so mehr oder weniger gut über die Runden kamen. Über ihren Vater, der im Krieg eingezogen wurde, und ihre Mutter, die die Familie allein durchbringen musste.
    »Zu wievielt – wie viele Kinder waren Sie?«
    Kurzes Zögern. Dann: »Nur zwei. Fabian und ich.«
    Nur zwei Kinder. Das waren vergleichsweise wenige in den Zwanziger-, Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Aber vielleicht hatte es Fehlgeburten gegeben, vielleicht waren einige Kinder in den ersten Lebensjahren an den typischen Krankheiten gestorben, die man nur mit Antibiotika heilen konnte – das alles, dachte Mona, war nicht relevant für den Fall.
    »Wie lange haben Sie in diesem Dorf gelebt?«
    »Bis ein paar Monate vor Kriegsende. Dann kam die Nachricht vom Tod meines Vaters.«
    »Woran...?«
    »Er war gefallen. In Russland. Kurz vor Kriegsende. Dann sind wir … Dann mussten wir alle weg.«
    »Weg? Wohin?«
    »Egal wohin.« Die alte Frau hatte sie spöttisch angesehen. »Die Russen kamen. Sie waren schon in Ostpreußen, und dort haben sie gehaust wie die Wilden. Es gab Dörfer, in denen sie jeden Einwohner erschlagen haben. Jeden Einzelnen, verstehen Sie? Manche haben sie auch aufgehängt oder an Scheunentore genagelt.«
    »Woher wussten Sie das damals?«
    »Jeder wusste das. Es gab die Flüchtlinge aus Ostpreußen, und solche Geschichten verbreiten sich automatisch. Jeder, der noch seinen Verstand beisammen hatte, hat sich damals auf den Weg gemacht.«
    »Wohin?«
    »Na, mit Panje-Wagen und allem, was man hatte, Richtung Westen. Haben Sie noch nie was von den Flüchtlingstrecks gehört?«
    »Also Ihre ganze Familie machte sich auf...«
    »Ja, sicher!« Helga Kayser hatte sie böse angesehen, und Mona war überrascht gewesen über den aggressiven Ton.
    »Aha. Und...«
    »Sie haben doch keine Ahnung, wie das damals war! Es war Januar und der kälteste Winter aller Zeiten. Die Straßen waren voll, nichts ging voran. Die Wehrmacht hatte die Straßen blockiert, wir kamen tageweise nicht vor und nicht zurück. Überall halb verhungerte Soldaten. Und die Leichen am Straßenrand von den Tieffliegerangriffen! Die Babys, die erfroren sind in der Kälte und nicht begraben werden konnten und massenweise dalagen wie – Puppen! Der viele Schnee, in dem die Räder stecken blieben!«
    »Ja. Das war sicher...«
    »Ach, sparen Sie sich das. Sie können das gar nicht nachvollziehen. Da..., da galten ganz andere Gesetze, da...«
    »Ja? Welche Gesetze galten denn da?«
    Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. Die alte Frau hatte sich halb erhoben, mit flammendem Blick und einem so angespannten Gesicht, dass mit einem Mal all ihre Falten wie ausradiert schienen, und Mona eine Ahnung bekommen hatte von Helga Kayser, wie sie damals war: eine junge, willensstarke Frau

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