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Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick

Titel: Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Goethe in den Band aufgenommen hat, ohne die Autorenschaft der großartigen Frau auch nur im Geringsten anzudeuten. Der poetisch-erotische Dialog mit Marianne von Willemer beseitigte andererseits die letzten Barrieren, die dieser dichterischen Schöpfung im Wege standen. Goethe nannte sich in den Versen an sie Hatem, Marianne gab er den Namen Suleika, da er sicher war, dass sie für ihn, so wie die persische Suleika für ihren Geliebten Jusuf, unerreichbar bleiben würde. Der Dichter verschwindet im Herbst 1815 für immer aus ihrem Leben – Marianne verstummt daraufhin.
    In seinem literarischen Leben folgte Goethe seinem heiligen Prinzip vom Sterben und Werden . Das machte ihn unsterblich. Im Leben aber entschied er sich immer für den Weg des geringeren Widerstandes. Leidenschaft ja, Opferbereitschaft lieber nicht. Darin glich Goethe, sagen wir vom Hals bis zur Fußspitze, 99,9 Prozent aller Männer. Doch einen solchen Kopf erlebt Europa und die Welt nur selten. Wie absurd muten all die Abrechnungen mit Goethes erotischen Zuneigungen und herzlosen Eskapaden an. Man verwechselt – vor allem gerne im deutschsprachigen Raum – nicht selten Werk und Person. Allerdings passiert das im Orient auch. Der beste Dichter aller Zeiten ist dort der verwegene, dem Wein, jungen Männern und Prostituierten verfallene Abu Nuwas, und der beste Mediziner, den der Orient je hervorgebracht hat und den auch die Europäer verehren, war Ibn Sina (Avicenna). Er lebte extrem ungesund und starb durch seine grenzenlosen Ausschweifungen sehr jung.
    Goethe versuchte im West-östlichen Divan das Denken und Fühlen des Orients und seiner Lyrik aufzunehmen. In diesem Sinne war sein Werk ein Abrücken von der gestaltorientierten griechischen Klassik hin zum geistigen Fluss orientalischer Dichtung. Und um sich in die Kultur des Orients einzufühlen, lernte er auch die arabische Schrift. Der Mann, der so emsig erst unsicher und krakelig und dann immer eleganter von rechts nach links schrieb (und nicht, wie meine eurozentrischen deutschen Kollegen behaupten, von hinten nach vorne ), war zu dem Zeitpunkt bereits 64 Jahre alt.
    Man ist geneigt zu denken, Goethe sei während oder vor der Arbeit an seinem kleinen literarischen Juwel in den Orient gefahren, doch er war nur zwischen Weimar, Wiesbaden, Frankfurt und Heidelberg hin und her gependelt. Er vermochte aber durch die Magie der Literatur besser als das Heer heutiger emsiger Journalisten in Kairo, Damaskus oder Tel Aviv den Orient zu verstehen und zu vermitteln. Das ist die unfassbare Magie der Literatur. Und dennoch ist dieses Juwel weder orientalisch noch okzidentalisch geworden. Die Poesie schaukelt zwischen beiden Stühlen und spiegelt so auch meine Seele wider. Ich müsste mein Herz zerreißen, wenn ich trennen wollte, was sich in mir aus dem Osten und dem Westen, aus Orient und Okzident vereinigt hat. Und ich könnte auch nach der tausendsten Wiederholung noch immer ausrufen:
     
    Wer sich selbst und andre kennt
    Wird auch hier erkennen
    Orient und Okzident
    Sind nicht mehr zu trennen.
    Sinnig zwischen beiden Welten
    Sich zu wiegen laß ich gelten;
    Also zwischen Ost- und Westen
    Sich bewegen, sei’s zum Besten!
     
    Auffällig bleibt jedoch, dass Goethe, wie er es bei keinem anderen Werk getan hat, zum Divan einen Anhang – »Noten zum besseren Verständnis« – geschrieben hat, so als hätte er gespürt, dass den Lesern die Materie fremd war. Die Romantiker werden später noch häufiger den paradiesischen Orient besingen und malen, aber zu seiner Zeit war Goethe fast allein auf weitem Feld. Goethe hatte es, wie alle Genies, nicht nötig, sich einen avantgardistischen Anschein zu geben – er war Avantgarde.
    Schaut man aber genau hin, erweist sich der Anhang als viel mehr als nur ein Apparat zur Erklärung der Dichtung. Er ist die selbständige zweite Hälfte des Divan , in der das Bild des Orients facettenreicher wird. Sogar der Mongolenfürst Timur-Leng, der Goethe nur ein einziges verachtungsvolles Gedicht wert war, bekommt hier einen Anstrich von Menschlichkeit.
    Der Divan wäre noch kein typisches Produkt Goethes, wenn der geniale alte Geheimrat nicht die Form des Dialogs vom Anfang bis zum Ende durchgehalten hätte, und nichts auf der Welt spiegelt Goethes Wesen so sehr wider wie der Dialog. Sein Leben lang führte er Dialoge: zwischen Menschen, Kulturen und Jahrhunderten. Vielleicht erscheint meine Feststellung manchem als orientalische Übertreibung. Sie ist für mich aber der

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