Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
Schwachsinn. Wir haben mehrere Identitäten in einer, der unsrigen, die durch die Emigration nur komplexer und reicher wird, auch in all ihren Brüchen.
Hameln, 20.2.90
Ich liebe Deine Definition des Militärs im Brief an Deine Schwester im Jahre 1800: »… und der Kern unserer Friedenskompanien ist ein abscheulicher Mischmasch des Abschaums aller Nationen … wenn Du mich nach ihrem Geiste fragtest, so muß ich antworten: sie haben keinen.«
Schade, dass Du so lange mit Dir gerungen hast, bis Du dem Militär den Rücken gekehrt hast. Mit meiner Freundin bin ich heute an der Weser spazieren gegangen. Ich habe dabei an Deine Briefe und verzweifelten Anträge und Bitten um Entlassung aus der Armee gedacht und ihr davon erzählt. Sie kennt Dich gut. Deine Zerrissenheit hat wie bei jedem Emigranten keine Grenzen. Du, derjenige, der nichts zu verteidigen hat, wenn Herrscher Gebiete unter sich aufteilen, wolltest in den Tod gehen. Gott sei Dank ist Dir das nicht gelungen. Ein Vers oder ein Märchen, die Du später für die Nachwelt geschrieben hast, ist wertvoller als der ganze nationalistische Schwachsinn. Deshalb würdest Du mich verstehen, wenn mir Dein Auftritt in Hameln und Deine flammende Rede zur Verteidigung der Ehre der Stadt überhaupt nicht gefällt. Später inBerlin hast Du Dich vom ganzen nationalistischen Rummel nicht beeindrucken lassen, Du hast Dich angeekelt auf das Landgut bei Kunersdorf zurückgezogen, und wir haben den Schlemihl bekommen, wie gut war hier Deine Entscheidung. Großvater! Wer zwischen den Stühlen sitzt, verteidigt keinen.
Vechta, 21.2.90
Dein Satz an Madame de Staël: »Ich bin nirgends am Platz, ich bin überall fremd« gilt für alle Emigranten und Minderheiten noch bis heute. Ich wollte Dir heute viel schreiben, aber ich bin müde. Ich übernachte in einem Kloster. Stell Dir vor, ich in einem Kloster! Die Nonnen sind aber lieb zu mir.
Herford, 22.2.90
Heute bin ich bei meinem Freund Udo. Er ist ein Büchernarr und Verächter aller sichtbaren und unsichtbaren nationalen Grenzen, genau wie Du. Bei einem Spaziergang in der Stadt entdeckte ich einen wunderschönen Spruch auf einer Mauer. Unter einem durchgestrichenen Nazispruch »Ausländer raus!« stand: Liebe Ausländer, lasst uns nicht alleine mit diesen Deutschen.
Toll, nicht wahr, Großvater? Wir bleiben!
Schweinfurt, 6.3.90
Mögen sich die Germanisten, Philologen und Botaniker über die Wichtigkeit Deiner Literatur und botanischen Forschungen die Haare raufen, Deine Größe besteht darin, durch Dein persönliches Unglück zur Größe der Menschlichkeit zu gelangen.
Regensburg, 15.3.90
Ich wußte schon von Deiner Solidarität mit dem Freiheitskampf des griechischen Volkes gegen die osmanische Besatzung und auch von Deiner eindeutigen Haltung gegenüber den Völkern Amerikas, als sie gegen die spanischen Kolonisatoren kämpften. Du bist wirklich durch die Emigration zum Weltbürger geworden. Man entzog Dir die französische Heimat, da wurde die Welt Dein Zuhause.
Heute habe ich aber genau erfahren, wie Du zu Heinrich Heine gestanden hast, als er in diesem Land verhasst war. Alle Achtung, Großvater! Hast Du je gelesen, was er über Dich geschrieben hat? Hier ist es: »Sein Herz ist ja so jung und blühend; in ihm ist der Mensch nicht geschieden von dem Dichter, sein Wort ist sein Herz . ..« Freust Du Dich? Ich liebe Heine!
Marnheim, 31.3.90
Heute ist meine Erzählreise zu Ende. Das Wetter draußen ist herrlich, und ich sitze trotzdem gerne hier drinnen am Schreibtisch, um meinen Brief an Dich abzuschließen. Großvater, Du hast in allem noch Glück, dass Du ein paar gute Freunde bis zum Ende Deines Lebens gehabt hast, die Dich anerkannt und geliebt haben. Diese Anerkennung und Achtung in ihren Herzen gaben Dir eine Heimat. Sie ist die einzige Heimat unserer Erde, die niemals Rassenhass oder Nationalismus hervorruft. Diese Heimat habe ich bei Freunden gefunden, und ich werde ihr und Dir verbunden bleiben.
Lebe wohl!
Dein Urenkel
Rafik
ZU BESUCH BEI HARRY HEINE
Ein Hörspiel
Z um 200. Geburtstag des Dichters bat der SDR ausländische Autoren, u.a. A.Szczypiorski, R.Bécousse und mich, ihre ganz persönliche Sicht Heinrich Heines darzustellen. Es ist eine Liebeserklärung an den Dichter, den Hans Mayer treffend »europäisches Ereignis und deutscher Skandal« nennt.
RAFIK SCHAMI (R. S.) (Schritte auf einer Treppe, dann Stille): Es ist wirklich dumm, zu Heine nach Paris zu kommen
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