Damiano
einem Baumstumpf nieder. Er stopfte sich einen kleinen Moosbausch in das schmerzende Ohr, um die Kälte abzuhalten, und bald nahm auch sein Schwindelgefühl ab. Mit einem Brotmesser löste er den Absatz an seinem unversehrten Stiefel, so daß er nicht mehr zu hinken brauchte.
Die neugewonnenen magischen Kräfte bedrängten ihn mit unablässigem Geflüster. Auf dem verletzten Ohr hörte er nichts als die Erinnerung an längst versunkene Gesänge in einer Sprache, die ihm fremd war und doch verständlich.
Flieg, flüsterte es immer wieder. Laß Kleider und Körper hinter dir zurück. Er hielt sich hartnäckig an seinem Stab fest.
»Das ist nicht das, was ich wünschte, Dame«, sagte Damiano laut und fand es seltsam, das Echo seiner Stimme nur in seinem linken Ohr zu vernehmen. »Ich bin nicht mein Vater.«
Plötzlich ging ihm auf, daß nicht einmal er selbst sich glaubte. Abrupt hielt er inne und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Schritt um Schritt legte er in Gedanken noch einmal den Weg zurück, den er genommen hatte, seit er seine Heimat verlassen hatte; betrachtete diesen Weg und seine eigenen Handlungen einerseits mit den Augen der Erinnerung, andererseits mit den neuen, fremden Augen, die ihm gegeben worden waren.
Das immergrüne Zwielicht hatte sich schon verdunkelt, als Damiano aufstand, um seinen Weg fortzusetzen. In der Gabelung einer gespaltenen Fichte spannte eine Eule ihre daunenweichen Schwingen aus, und Kälte senkte sich von der hochgelegenen Wiese in den Wald herab.
Nur die silberne Verzierung an seinem Stab war noch sichtbar. Er räusperte sich und sah sich um, nahm jede Maus und jedes Dachses Gähnen wahr; das lebendige Rascheln des Waldes.
Diesmal mußte die Beschwörung eigentlich leichter sein. Er brauchte nur seinem eigenen Feuer zu seinem Ursprung zu folgen und würde den Geist finden, den er suchte. Damiano schloß die Augen und versenkte sich in sich selbst, ging tiefer und tiefer, bis er weit unten die schimmernde Spur des Feuers entdeckte. Ihr folgte er durch Schwärze und Nichts, und der Schimmer wurde heller und leuchtender, als er sich dem Ursprung näherte. Am Gestade eines schmelzflüssigen Meeres machte er Halt, nicht von der Hitze, sondern von Entsetzen zum Stillstand gezwungen.
Hierfür wurde ich geboren, dachte er, und bei dieser Erkenntnis hätte er vielleicht geweint, hätte er nicht alle seine Tränen schon verbraucht. Er kniete nicht nieder, sondern blieb mit durchgedrückten Knien stehen und ließ sich von seinem Stab Halt geben.
»Satan!« rief er. »Hier bin ich!«
Es kam keine Antwort. Damiano öffnete die Augen.
Er war mitten im dunklen Wald, und es war schwarze Nacht. Seine Reise hatte nirgendwohin geführt. Verwirrt runzelte er die Stirn.
»Wenn das die Feuer der Hölle sind«, murmelte er zu sich selbst, »dann muß dieser lombardische Hügelhang die Hölle selbst sein. Und ich bin schon an manch schlimmerem Ort gewesen.«
Dabei ließ er es bewenden und begann auf die traditionelle Weise, mit Stab und Palindrom, seine Beschwörung. Bei dem Wort Satanas spürte er wieder die mächtige Kraft, die ihn aus dem feuchten Fichtenwald in die geöffnete Hand des Teufels zu ziehen suchte. Jede Faser in Damianos erschöpftem Körper lehnte sich gegen die Vorstellung dieses wilden Flugs auf.
»Nein«, sagte er fest und verwurzelte seine Füße in der Erde. Der Zauber legte sich fest wie eine Schlinge um ihn, aber er konnte ihn nicht ins Wanken bringen oder losreißen. Der juwelengeschmückte Knauf des Stabes funkelte, glomm dann wie ein Öllämpchen, und Damiano sah plötzlich in das feingemeißelte rote Gesicht Satans, der sich mit gelassener Anmut die Fichtennadeln von den Schuhen schüttelte und sich verneigte.
Der Teufel war genau so groß wie er.
»Du bist also nicht mehr die gefühlvolle kleine Friedenstaube, die sich vor einer Woche mit mir stritt«, begrüßte er Damiano.
Damiano zuckte mit den Schultern.
»Du hast keine Flügel«, stellte er fest. »Das ist mir vorher, als du so groß warst, gar nicht aufgefallen. Du hast keine Flügel mehr.«
Das rote Gesicht zuckte verächtlich.
»Ich nehme die Größe an, die mir gerade beliebt. Und was die Flügel angeht, junger sterblicher Freund, so brauche ich sie nicht, um zu fliegen.«
Damiano blinzelte und strich sich über das Kinn.
»Schon möglich, aber ich brauche meine Augenbrauen auch nicht und zupfe sie mir dennoch nicht aus.«
Scharlachrot vertiefte sich zu Purpurrot, ansonsten aber blieb die
Weitere Kostenlose Bücher