Damit Dein Leben Freiheit Atmet
die Rituale an die eigene Kindheit erinnern, sondern weil sie mich öffnen für das Geheimnis Gottes, das mich umgibt. Rituale bringen das Geheimnis in mein Haus. Ich erlebe immer wieder einsame Menschen, denen abends die Decke über dem Kopf
zusammenfällt. Für sie ist es wichtig, den Abend mit Ritualen zu gestalten. Dann erfahren sie Heimat. Sie wohnen in einem Haus, in dem sie wahrhaft zu Hause sind, in denen das Geheimnis wohnt und ihnen Heimat schenkt.
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Die Taufe
In vielen Religionen gibt es nach der Geburt eines Kindes ähnliche Waschrituale, wie sie im Christentum bei der Taufe vollzogen werden. In der frühen Kirche legten die Täuflinge ihre Kleider ab und stiegen nackt in das Taufbecken. Dort wurden sie dreimal untergetaucht. Dann stiegen sie aus dem Taufbecken, wurden gesalbt und zogen ein weißes Kleid an. Heute wird das Kind bei der Taufe dreimal mit Wasser übergössen. Wasser hat reinigende und erneuernde Kraft. Doch wovon soll das Kind gereinigt werden? In der früheren Theologie sagte man, es solle von der Erbsünde befreit werden. Doch was sollen wir darunter verstehen? Die Erbsünde wurde früher als etwas verstanden, was das Kind befleckt. Für die heutige Theologie bedeutet die Erbsünde, daß wir nicht in eine sündenfreie Welt hineingeboren werden, sondern daß wir von Geburt an von der Sünde der Gesellschaft infiziert sind. Die sündige Atmosphäre möchte sich an das Kind hängen und sein Denken und Fühlen beschmutzen.
Wenn der Priester dreimal Wasser über den Kopf des Kindes gießt, dann drückt er damit die Hoffnung aus, daß der reinigende Geist Gottes für das Kind stärker sein möge als der verunreinigende Geist dieser Welt. Der Priester spricht dazu die Formel: »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Der Täufling wird in die Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes gestellt. Sie soll ihn schützen vor den negativen Einflüssen, die durch die Gemeinschaft mit sündigen Menschen auf ihn einströmen.
Das Übergießen mit Wasser kann aber auch noch eine andere Bedeutung haben. Das Bild des Kindes wird nicht nur durch die Sünde getrübt, sondern auch durch die Bilder, die die Eltern und Geschwister, die Verwandten und Freunde dem Kind
überstülpen. Da sieht der Vater im Sohn nicht das einzigartige
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und einmalige Bild, das Gott sich von ihm gemacht hat, sondern er sieht in ihm alles, was er sich selbst verboten hat oder was er selbst nie leben durfte. So ein Bild trübt das Selbstbild des Sohnes. Der Bruder sieht in seiner jüngeren Schwester die Rivalin, mit der er die Liebe der Eltern teilen muß. Oder die Verwandten legen in die Tochter ihre eigenen Erwartungen und unerfüllten Bedürfnisse hinein. Auch solche Bilder trüben das unverfälschte Bild Gottes in der Tochter. Das Wasser drückt aus, daß Gott all diese übergestülpten Bilder abwäscht, damit das reine und klare Bild zum Vorschein kommt, das Gott sich von diesem Kind gemacht hat.
Das Wasser der Taufe erinnert aber auch an die Quelle des Heiligen Geistes, die im Kind sprudelt. Wasser reinigt uns nicht nur von äußerem Schmutz. Wenn wir reines Quellwasser trinken, haben wir den Eindruck, daß es unser Inneres reinigt. Es erfrischt uns. Es vertreibt aus uns die Müdigkeit, den Staub unseres Innern. Die Taufe ist die Verheißung, daß in uns die Quelle des Heiligen Geistes strömt, die nie versiegt, weil sie göttlich ist, und die immer neu und frisch ist, weil sie von dem ewig neuen Gott kommt. Wenn wir in Berührung bleiben mit der inneren Quelle, dann werden wir nie austrocknen oder uns verausgaben.
Was in der Taufe vollzogen wird, üben wir in täglichen Ritualen ein. Da ist zunächst das Ritual des Weihwassers. Wenn wir eine Kirche betreten, nehmen wir Weihwasser und bekreuzigen uns damit. Manche Christen haben auch an ihrer Haustür ein Weihwasserbecken. Immer wenn sie aus dem Haus gehen oder in es eintreten, nehmen sie das Weihwasser. Eine andere Tradition kennt das Weihwasserbecken im
Schlafzimmer, aus dem man sich morgens und abends mit Weihwasser bekreuzigt. Mit diesem persönlichen Ritual erinnern wir uns an die Taufe. Wir erinnern uns daran, daß Gottes Geist uns von allem reinigt, was uns täglich immer neu
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beschmutzt. Wir berühren unsere Stirn, unseren Unterbauch, unsere linke und rechte Schulter mit Wasser. Unser Denken muß gereinigt werden. Im Weihwasser liegt die Verheißung, daß wir klar denken, nicht getrübt durch emotionale
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