Damit Dein Leben Freiheit Atmet
ein Ritual aus? - Die
Jakobsleiter
Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder Esau. Esau, der dunkle und behaarte Bruder, steht für seinen Schatten. Jakob läuft also vor seinem eigenen Schatten davon. Jakob hat sich durch seinen Verstand und seine Schlauheit das Erstgeburtsrecht und den Segen seines Vaters erschlichen. Er hat sich nicht die Hände schmutzig gemacht durch Jagd oder Feldarbeit. Aber gerade durch seine Intrigen ist er in Schuld geraten. Jetzt schlägt Esau zurück. Er sinnt darauf, ihn zu töten. Jakob stellt sich nicht der Auseinandersetzung, sondern weicht aus. Als es auf seinem Fluchtweg Abend wird, nimmt er sich einen Stein als Kopfkissen und schläft ein. Er träumt von der Himmelsleiter, auf der Engel auf- und niedersteigen. Gott steht oben auf der Leiter und verheißt ihm, daß er an ihm vollbringen werde, was er ihm verheißen hat. Das sind für mich drei Bilder für Rituale: Rituale sind etwas Handfestes. Ich nehme einen Stein in die Hand. Ich zünde eine Kerze an. Ich mache eine Gebärde mit meinen Händen, oder ich besprenge mich mit Wasser. Mitten auf meiner Flucht bringt mich das Handfeste in Berührung mit mir selbst. Ich bleibe stehen und spüre im Ritual mich selbst.
Und Rituale öffnen den Himmel. Rituale haben mit Gott zu tun.
Sie zeigen mir den Horizont auf, unter dem ich lebe. Ich lebe unter dem Segen Gottes. Indem ich etwas in die Hand nehme, vergewissere ich mich, daß der Himmel sich über mir wölbt, daß Gottes segnende Hand über mir ist. Und die dritte Bedeutung der Rituale: Sie schenken mir die Gewißheit, daß mein Leben gelingt. Gott wird vollbringen, was er mir verheißen hat: daß mein Leben einen Sinn hat, daß ich mit meinem Leben eine Spur eingrabe in diese Welt.
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Als Jakob aufwacht, erkennt er, daß der Ort, an dem er geschlafen hat, heiliger Boden ist: »Haus Gottes und das Tor des Himmels.« (Genesis 28,17) »Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goß Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus).« (Gen 28,18f) Hier werden drei weitere Bilder für Rituale sichtbar. Rituale sind
Erinnerungszeichen. Sie erinnern mich, daß Gott wirklich gegenwärtig und für mich da ist. Sie bringen die Gegenwart Gottes in mein Inneres. Theoretisch glauben wir alle, daß Gott gegenwärtig ist. Aber es ist uns nicht bewußt. Unser Herz bleibt davon unberührt. Rituale bringen Gott in mein Herz. Jakob gießt Öl auf den Stein und salbt ihn. Salben ist etwas Zärtliches. Öl heißt im Griechischen »elaion« und hat mit Liebe und Zärtlichkeit zu tun. Jakob geht nicht nur liebevoll mit dem Stein um. Er vergewissert sich durch das Salben des Steines auch, daß Gottes Liebe ihn zärtlich berührt. Das verweist auf die fünfte Bedeutung der Rituale: Rituale vermitteln mir Gottes zärtliche Liebe. In ihnen lasse ich mich von Gottes Liebe berühren. Ich brauche solche leibhaften Vermittlungen der Liebe Gottes, damit ich daran zu glauben vermag. Über die Liebe Gottes zu reden, genügt nicht, um sie erfahren zu können.
Jakob gibt dem Ort einen neuen Namen. Rituale haben einen bestimmten Namen: Es gibt das Gute-Nacht-Ritual, das Morgenritual, das Taufritual, das Segensritual usw. Ich gebe einem konkreten Tun einen Namen. Dadurch bekommt es eine besondere Bedeutung. Der Name, den Jakob dem Ort gibt,
»Gotteshaus«, steht letztlich über allen Ritualen. Alle Rituale wollen etwas davon vermitteln, daß ich im Haus Gottes zu Hause bin. Rituale sind wie ein Haus, in dem ich wohnen kann.
Das deutsche Wort »wohnen« heißt ursprünglich: »Behagen empfinden, Gefallen finden, zufrieden sein«. Rituale vermitteln die Erfahrung, daß ich darin wohnen kann, daß ich dabei Behagen empfinde und inneren Frieden. Haus und Heim
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gehören zusammen. Haus kommt von der Wurzel »skeu«, die
»bedecken, umhüllen« bedeutet. Heim hat mit der Wurzel »kei«
zu tun, die »liegen, sich niederlassen« meint. Im Haus Gottes fühle ich mich von Gott geschützt und umhüllt. Im Heim lasse ich mich nieder, da kann ich mich fallen lassen. Zum Heim gehört auch das Geheimnis. Wahrhaft daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt. In den Ritualen vergewissere ich mich, daß ich an jedem Ort dieser Welt zu Hause bin, im Hause Gottes wohne und mich als Gottes geliebter Sohn und geliebte Tochter gebärden darf. Und in den Ritualen erfahre ich Heimat.
Da fühle ich mich daheim, nicht weil mich
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