Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
fremde Hände kam und die Eltern bis ans Lebensende eine feste Bleibe hatten. Die Familie war ein stabiles Gefüge, Mobilität ein Fremdwort. Oft endete das Leben des Einzelnen am selben Ort, wo sein Leben einst angefangen hatte. Mit der Industrialisierung kam es zu einer ersten Aufweichung dieses statischen Familienbildes. Der Vater verschwand tagsüber aus den Augen von Ehefrau und Heranwachsenden. Manchmal war der Weg ins Geschäft, die Fabrik, die Kanzlei nur kurz, doch weit genug, um eine erste Trennung zwischen Familienleben und Broterwerb zu schaffen. Im 20. Jahrhundert nahm die Mobilität zu, parallel zu den Eisenbahnnetzen und zum Flugverkehr. Noch waren, zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 70er-Jahre hinein, vor allem die Ehefrauen für die Aufrechterhaltung der familiären Stabilität zuständig. Die meisten deutschen Frauen hielten ihren Männern »den Rücken frei«.
Eine der bekanntesten Rückendeckerinnen war Hannelore Kohl, die Frau des Exbundeskanzlers Helmut Kohl. Sie beschrieb sich »als unauffällige Gefährtin an der Seite des mächtigen Mannes, der verlässliche Pannenservice für den Chef, ansonsten zuständig für Heim und Herd und Kinderlachen« ( Der Spiegel , Nr. 28/2001, S. 71).
Mit dem Wechsel ins dritte Jahrtausend haben viele Frauen ihre über Jahrhunderte treu und fraglos gelebte Mutter- und Hausfrauenidentität stehen lassen oder zumindest als einzig gültige weibliche Identität infrage zu stellen angefangen. Die Frau hat mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert einen bedeutsamen Stellungswechsel vorgenommen: Ihre Position ist nicht mehr im Schatten ihres Mannes, sondern an seiner Seite. Auch sie strebt hinaus in die Berufs- und manchmal auch Karrierebahnen, auch ihrem Selbstbewusstsein tut es gut, finanziell ein Eckpfeiler in der Familie darzustellen - und nicht nur für den emotionalen Unterhalt der Familie geachtet zu werden. Eine »Achtung«, die übrigens den Familienmitgliedern
oft so selbstverständlich wird wie das tägliche Brot. Tobias, das älteste von drei Geschwistern und ein munteres Bürschchen mit einem fatalen Hang zur Entwertung seiner Lehrerinnen (»die sind alle so sch …«), schwärmt gern von seinem Vater. Kühl wie ein Nordwind bemerkt er:
»He, mein Vater verdient krass viel Kohle, ist den ganzen Tag halt beschäftigt mit Geldverdienen.«
»Und deine Mutter?«
Tobias grinsend: »Die gibt das Geld aus … sagt mein Vater.«
»Ist sie auch so beschäftigt tagsüber?«
»Nö, womit denn...«
Die Institution Familie, auch in Form der Patchworkfamilie, wird immer wieder totgesagt. Die Familie wird die Begräbnisreden überleben. Sie ist nicht totzukriegen, weil sie Bedürfnisse abzudecken vermag, die keine andere Institution so zu befriedigen weiß. Die Institution Familie wird weiter existieren, weil sie archaische Grundbedürfnisse von uns Menschen zu befriedigen verspricht: Geborgenheit, Nestwärme, Zugehörigkeit, emotionale Verlässlichkeit, Bindung, Gewissheit eines vollständigen Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tode, Zukunftsfantasien, Ewigkeitsutopien.
Der Begriff Familie ist viel mehr als nur ein gesellschaftspolitischer, sozialer Begriff. Er ist ein uraltes Bollwerk gegen den Tod. Und zwar den Tod im geistigen, psychischen und körperlichen Sinne. Wer Familie will, will weitergeben - und damit auch weiterleben, über den persönlichen Tod hinaus.
Die Freude ist durchaus nachvollziehbar, wenn eine Mutter, ein Vater in ihren Kindern eine Begabung, einen Charakterzug wiederfinden, der schon in ihnen geblüht und Früchte getragen hat. »Meine Tochter ist genauso gut in Latein wie ich«, begeistert sich eine Mutter. Und ich freue mich über ihre Begeisterung. Eine andere Mutter entdeckt mit Verblüffung
die Leidenschaft ihres 13-jährigen Sohnes für das Schultheater. »Hätte ich nie gedacht, er ist ja eher zurückhaltend, und jetzt spielt er mit genauso viel Spaß mit wie ich damals.« Und ein Vater: »He, das muss in den Genen liegen, meinem Sohn fällt Mathe einfach zu.«
Ob es in den Genen liegt, wissen wir nicht. Doch fällt bei den drei Elternbeobachtungen etwas ganz Entscheidendes auf: die Überraschung der Eltern. Keiner dieser Eltern hat die Förderung von Mathe, Latein, Schultheater forciert oder dem Kind gar aufgezwungen. Doch jeder freut sich einfach darüber, dass in der nächsten Generation eine eigene Leidenschaft sich wieder abbildet und verströmt. Absichtslos. Diese Eltern fantasieren deswegen
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