Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
seinem Sosein zu entwickeln. Alle Kinder sind Künstler: Aus den Farben, die sie zur Verfügung gestellt bekommen, entwerfen sie ihr Selbstbild: Aha, ich bin ein lustiges Kind, die Mama muss so oft lachen. Aha, ich bin ein böses Kind, der Papa muss so oft schimpfen. Aha, ich bin ein hübsches Kind, die schauen mich oft so entzückt an. Aha, ich bin ein kluges Kind, die werfen sich oft so erstaunte Blicke zu. Aha, ich bin ein trauriges Kind, die sind oft so traurig. Aha, ich bin ein schwieriges Kind, die Mama guckt oft so verzweifelt und entsetzt. Aha, ich bin ein König, die lassen mich alles machen, was ich will. Aha, ich bin eine Prinzessin, die Mama kauft mir hübschere Sachen als den anderen. Aha, ich bin ein Unglück, der Papa schaut immer so entgeistert. Aha, ich bin mächtig, die haben Angst vor meinen Wutausbrüchen. Aha, ich bin was ganz Besonderes, die schauen mich so erwartungsvoll an.
Es gibt unzählige Blickgeschichten in jeder Familie. Und die ersten Stunden einer Therapie erzählen mir ganz viel von diesen Blickgeschichten, weil die Kinder von der ersten Minute an diese Blicke auch bei mir hervorrufen wollen: bewundernde, verärgerte, gelangweilte, entzückte Blicke - entsprechend ihrer verinnerlichten Blickgeschichten.
Eltern fragen oft, was denn eigentlich wirken würde in der Erziehung. Ich habe über diese Frage unzählige Male nachgedacht. Meine jetzige Antwort müsste lauten: Es sind die Blicke, die Sie, die Eltern, auf Ihre Kinder werfen. Den Worten wird meistens zu viel Bedeutung gegeben, zumindest wenn die Kinder klein sind. Viel später, in der Pubertät, mag das Wort wichtiger sein, da gilt es wirklich manchmal, dass man als Eltern Rede und Antwort stehen muss, Klartext reden muss, die Heranwachsenden nicht im Zweifel lassen sollte über die eigene Weltsicht, die persönlichen Werte, die eben auch Erfahrungswerte sind.
Wenn eine Mutter, ein Vater oder, in der Paartherapie, der Partner fragt: »Was soll ich dem anderen sagen?«, antworte ich oft dahin gehend, dass es nicht so wichtig ist, was gesagt, sondern wie geschaut wird. Wir alle kommunizieren ungleich deutlicher und handfester mit Blicken als mit Worten. Die Wahrnehmung des anderen springt aus unseren Augen, dem Gefühlsausdruck, unseren Gesten viel mächtiger heraus als aus den gesprochenen Worten, die oft schneller fallen, als die dahintersteckenden Gefühle deutlich werden, die manchmal weder erfasst noch im Kopf so richtig angekommen sind. Oft besteht zwischen rechter und linker Gehirnhälfte noch gar keine Verbindung. Im rechten »Hirnhaus«, wo die Gefühle zu Hause sind, kann noch totale Unordnung herrschen - und schon glänzt das linke Haus (Logik, Sprache) mit perfekter Ordnung. »Simultanübersetzungen« kommen leider nur dort vor, wo zwischen rechter und linker Gehirnhälfte eine optimale Verbindung besteht. Häufiger läuft es zwischen Sprache und Gefühl so ab, dass - wenn wir unsere zwei Hirnhälften einmal mit Bewohnern ausstatten - der rechte Bewohner staunend der logischen Rede des linken Bewohners zuhört und sich dabei denkt: Der weiß doch gar nicht, wovon er spricht. Er tut aber so - auch wenn er keine Ahnung hat, was ich gemeint
habe. Ich weiß es ja selber noch nicht, ich brauche einfach mehr Zeit.
Es wird viel geredet in den heutigen Kinderzimmern, auf dem Flur, im Wohnzimmer, in der Küche. Im Elternschlafzimmer manchmal zu wenig. Eltern lassen sich oft zu wenig Zeit in der Erziehung und im Umgang mit ihren Kindern. Wie wohltuend wäre es, wenn Eltern, statt vorschnell sich wieder einmal in ihrer Wahrnehmung zu bestätigen, die etwa heißt: »Mit dir gibt’s ständig Ärger« oder: »Schon wieder eine schlechte Note!«, sich einfach mal Zeit nehmen und schweigen würden. Und die Spiegel mit den ewig gleichen Bildern beiseitestellen könnten.
Als Therapeut hat man vor allem eine Aufgabe: die alten Familienspiegel mit den alten Gesichtern und deren wie fest gemeißelten Ausdrücken langsam und geduldig abzuhängen, einen nach dem anderen, und Platz für neue Spiegel zu schaffen. Spiegel, welche die ganze Lebendigkeit des Einzelnen in der Familie wiedergeben können.
Der Weg zu neuen Spiegeln mit wärmeren und frischeren Bildern führt oft über die Eltern und deren Bereitschaft zu einer eigenen Spiegelmeditation: Was erkenne ich, wenn ich in meinen eigenen Spiegel schaue? Sehe ich da nicht eine ähnliche Ängstlichkeit und Schüchternheit, die mich bei meiner Tochter so aufregen? Kommt mir da nicht eine
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