Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
durchaus diese utopische Haltung. Diesen Tagträumen ist etwas eigen, was sie kostbar werden lässt: das Drängen auf Veränderung, der tiefe Glaube daran, dass neue, bessere Kapitel entstehen können, sowohl auf individueller, gesellschaftlicher wie politischer Ebene.
Kindern kann man nichts Besseres wünschen als Eltern, die immer wieder aufbrechen. Wohlverstanden, nicht einbrechen in das Leben ihrer Kinder, die »ihnen nicht gehören«,
wie Khalil Gibran zu Recht feststellt, sondern die sie nur möglichst gut begleiten sollen. Ein 74-jähriger Großvater hat einmal in der Mehrgenerationentherapie gesagt: »Ich hab noch was vor … ich brauch Ihre Unterstützung dabei.« Ich habe ihm damals geantwortet: »Mit der Haltung brauchen Sie keine Unterstützung, da brauchen Sie nur weiterzugehen. Sie sind Ihren Kindern und den drei Enkeln noch einmal Vorbild. Was können die mehr von ihrem Großvater verlangen!«
Eltern, die mit unverändertem Mut, mal ist dieser Mut sichtbarer, mal versteckter, eigene Vorhaben verfolgen und an ihrer Entwicklung arbeiten, sind ein Geschenk für ihre Kinder. Die 60-Jährige, die ihre Freunde zum großen Fest mit einer Kostprobe in Bauchtanz beschenkt, die 55-Jährige, die ihre Apotheke verkauft, um endlich Germanistik studieren zu können, der 48-Jährige, der seine sichere Laufbahn als verbeamteter Lehrer beendet und nochmals eine Weiterbildung zum Kindertherapeuten beginnt, die Kosmetikerin, die mit 51 merkt, wie sie in ihrem neuen Betätigungsfeld als Reflexzonen- und Reiki-Therapeutin Befriedigung findet und wieder mit Freude am Morgen aufsteht..., es gibt so viele Beispiele von Menschen, die nochmals einen Aufbruch gewagt haben.
Und, wen erstaunt es, ihren Kindern ging es mit den Veränderungen im Leben ihrer Mutter, ihres Vaters besser. Keine dieser Frauen ist durch die Verwirklichung eines Traumes eine Rabenmutter geworden. Die schwierigsten Therapien, dies sei hier einmal klar gesagt, sind diejenigen, in denen die Mütter Hausfrauen sind. Das Hausfrauendasein ist eine legitime Aufgabe, solange die Kinder klein sind. Doch wenn die Kinder in die Schule kommen, sollten die Mütter wieder in ein eigenes Leben zurückkehren, weil sonst ihre Tagträumerei ins Stocken gerät.
Das heißt: Ins Stocken gerät die Tagträumerei nicht unbedingt. Es passiert etwas Schlimmeres. Das Objekt der Tagträume wird ausgetauscht. Wo irgendwann noch die Träumende
selber das Objekt ihrer Begierde, ihrem sehnsüchtigen Wunsch nach Wachstum und Selbstverwirklichung war, wird ganz unmerklich das Kind ins Zentrum der Tagträumerei geschoben. Plötzlich handeln die Träume nicht mehr von der Träumenden, sondern von ihrem Stellvertreter, dem Kind. Das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten ist verloren gegangen - nicht die Fähigkeiten selber! - und jetzt wird den Kindern, meistens ist es ein Kind in der Geschwisterreihe, alles zugetraut. Aber damit diese Verschiebung nicht auffliegt, die eigentlich nichts als Missbrauch ist, wird dem auserwählten Kind besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Solche Eltern lassen ein Förderungsprogramm anlaufen, bei dem einem Außenstehenden angst und bange werden könnte. Diese super geförderten Kinder kommen aus der Schule nach Hause - damit das Nachmittagsprogramm anrollen kann. Und da diese Kinder ja ein Versprechen sind (was ihnen auch schmeichelt), halten sie oft lange durch, bringen gute Zeugnisse nach Hause, sammeln Abzeichen und Pokale - und geraten spätestens in der Pubertät in die Atemlosigkeit.
Julia, eine 16-Jährige, sitzt dann da, zählt auf, was sie alles kann - sie kann viel -, was sie alles macht - sie macht viel. Und wie ich dann mit staunender Stimme frage: »Aha, also hast du ziemlich viele Interessen?«, antwortet sie dumpf: »Nein, hab ich nicht.« Auf meinen fragenden, irritierten Blick hin sagt sie langsam: »Ich habe keine Interessen.«
»Ja, also … du machst Ballett, du voltigierst, du spielst Geige, du bist im Schultheater … warum machst du das dann alles?«
»Meine Eltern finden das gut.«
»Und du?«
»Scheiße … aber wenn ich sage, ich hör auf mit Geige, kriegt meine Mutter die glatte Panik und dann muss ich mir anhören, wie gut ich doch bin, wie viel sie schon gezahlt haben, dass sie als Kind von so was geträumt hätten … Und
dann kann ich nicht einschlafen am Abend und … ich will sie nicht enttäuschen …« (Julia weint.)
»Was möchtest du denn machen?«
»Ich weiß es nicht. Nichts (eine lange Pause, dann kaum hörbar)
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