Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
eine, die man verwöhnt, der man hübsche Kleider kauft.«
Nicht nur Kindermund, irgendwann tut auch Elternmund Wahrheit kund. Diese Augenblicke, in welchen sich die Eltern nicht mehr mit Ärger, Wut, Verunsicherung, Sorge
über die Lebensjahre und -bewegungen ihrer Kinder beugen, sondern in ihre eigenen emotionalen Bewegungen hineintauchen, haben oft die Wirkung von endlich geöffneten Schleusen, die das Familiengewässer wieder zum Fließen bringen. Es sind kostbare Augenblicke und mit der Erkenntnis verbunden, dass nicht der Sohn oder die Tochter wehtun, sondern eine eigene, nie ganz verdaute Erfahrung von großer emotionaler Wucht. Diese Erfahrung ist meistens in der Flut neuer Erfahrungen und zunehmender Lebensjahre untergegangen. Sozusagen in den psychischen Untergrund. Doch an Wirksamkeit haben solche Verletzungen und unerfüllte Träume wenig eingebüßt. Jetzt, im Angesicht der eigenen Kinder, werden sie nicht mehr in der eigenen Seele, sondern im Kind geortet.
Es ist ein uralter Mechanismus, alles, was wir nicht an uns mögen, aus uns zu verbannen - und draußen, in der näheren oder weiteren Umwelt, wiederzufinden. Man nennt diesen Vorgang Projektion: Alles Belastende, uns Quälende wird nach außen geworfen, zu einem anderen hin. Manchmal ist dieser andere eine ganze Gruppe oder gar ein Volk - um es dann dort mit großer Entschlossenheit zu bekämpfen. Für diesen uralten menschlichen Mechanismus gibt es unzählige Beispiele. Hitler hat ihn bei den Juden angewendet, Mao bei den Intellektuellen Chinas, die Christen bei den Nichtchristen.
Auch Eltern haben ein Kind in sich
Eltern berichten mir oft erst nach einem längeren Testen und Prüfen meiner Person von ihren geheimen Fantasien:
»Manchmal glaube ich, wenn mein Sohn so weitermacht, wird er kriminell, ständig macht er mit Waffen (Spielzeugwaffen) rum.«
»Unsere Tochter ist so schüchtern … wie will die es mal schaffen? Die geht doch unter.«
»Claudio hat so was Verdruckstes, er sagt nie, was er wirklich denkt.«
Das sind nur drei Elternstimmen, doch jede trägt das Gesagte mit Inbrunst und im Ton vollster Überzeugung vor. Diese drei Charakterisierungen stehen da wie Betonpfeiler in der Familienlandschaft. Solche Betonpfeiler entstehen aber nicht einfach so in einer von permanenten Veränderungen und Entwicklungen bewegten Familie. Sie sind in dieser Familie aufgebaut worden. Doch warum braucht eine Familie aggressive, »verdruckste« und schüchterne Kinder? Kein Kind kommt mit diesen Eigenschaften auf die Welt. Sicherlich gibt es genetisch bedingte Temperamentsunterschiede, doch die genannten Adjektive, sprich: Charaktereinfärbungen, werden im ständigen Wechselspiel mit der Primärfamilie erworben. Babys sind leiser oder lauter, schreien mehr oder weniger, sind hungrig oder schnell satt, sind aktiver oder zurückhaltend-beobachtend - aber gewiss nicht schüchtern, aggressiv oder verdruckst. Solche Arten, auf die Welt zuzugehen, sind bereits Antworten auf die soziale Umgebung. Und es sind oft stimmige, sinnmachende Antworten. Es sind, einfach und mit Ruhe gesagt, Spiegel.
Spiegel können immer wieder ausgetauscht werden, sie sind nicht für die Ewigkeit geschaffen und unverrückbar. Die ersten Spiegel der Kinder sind die Eltern oder die anderen Menschen, mit denen die Kinder viel Kontakt haben. Wenn Kleinkinder sich das erste Mal im Spiegel entdecken, bleiben sie oft ganz versunken davor stehen oder sitzen. Sie gucken einfach, neugierig und aufmerksam. Dann gehen sie wieder weg, verlieren irgendwann, meistens sehr schnell, das Interesse am Spiegel. Er antwortet nicht, es passiert nichts. Viel spannendere Spiegel sind die Gesichter der Eltern, der Geschwister. Da gibt’s so richtig was zu sehen: die Begeisterung
der Mutter, wenn das Kleinkind die ersten Schritte macht; ein gerührter Blick des Vaters, wenn er »Papa« hört; das verärgerte Hochziehen der Augenbrauen bei der Mutter, wenn der kleine Junge zum zehnten Mal seine Rassel auf den Boden wirft und die Mama sich schon wieder bücken muss; die Wut im Gesicht des älteren Geschwisters, wenn das kleine Mädchen den eben gebauten Turm umwirft; die genervten fahrigen Bewegungen der Mutter, die eben ans Telefon gegangen ist und sich mal etwas ausgiebiger mit ihrer Freundin unterhalten will und der Kleine fängt nach der Mutter zu schreien an.
Aus diesen täglichen, tausendfachen Spiegelungen wächst ein Charakter heran. Aus diesen Spiegelungen beginnt das Kind ein inneres Bild von
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