Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
welche dieselbe Klasse besuchte:
»Sie sagt gar nichts Gescheiteres als ich, manchmal hab ich sogar vor ihr schon eine bestimmte Idee gehabt und die auch gesagt. Aber wenn Anna dann das Gleiche nochmals sagt, hören ihr alle zu und tun so, wie wenn sie diese gute Idee gehabt hätte...« Wir kennen diesen Vorgang wahrscheinlich alle: Es werden die fast wortgleichen Gedanken geäußert von zwei Menschen, doch sie entfalten nicht die gleiche Wirkung. Den Unterschied macht nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise, wie der Inhalt vermittelt wird. Und der Unterschied heißt: Emotion. Der eine steht hinter seinen Worten, der andere sagt sie nur. Mitgeteilte Emotionen wirken immer stärker als mitgeteilte Gedanken.
Isabelle, die sich über viele Therapiestunden hinweg mit der unterschiedlichen Wirkung von ihr und Anna auf andere beschäftigt hat, brachte ein Beispiel, das ihr und mir plötzlich diesen feinen Unterschied klarmachen konnte. Es ging bei dem zuvor erwähnten Klassengespräch um die Gestaltung eines Ausflugs, dessen Höhepunkt der Besuch bei einem Politiker sein sollte. Die meisten Mitschüler kannten den Politiker überhaupt nicht, das Interesse war dementsprechend gering. Isabelle schlug vor, ihm auch kritische Fragen zu stellen. Die Klasse reagierte mäßig begeistert. Dann griff Anna das Thema Fragen nochmals auf und sagte (laut Isabelle): »He, das ist doch cool, dem können wir alles sagen, was wir nicht gut finden, und, he, der muss antworten, wir sagen ihm, dass wir das G8 überhaupt nicht so toll finden … das ist doch eine Gelegenheit...« Isabelle musste erleben, dass die Klasse plötzlich begeistert war von der Aussicht, einem Politiker einmal alles sagen zu können, was 17-Jährigen so auf der Seele brennt. Was dem Lehrer und auch Isabelle nicht geglückt war, nämlich die Klasse zu motivieren, schaffte Anna mit ihrer vitalen Art.
An dieser Stelle könnte jetzt eine umfangreiche Darstellung der Zusammenhänge zwischen erfolgreichem Lernen und Emotion folgen. Ich fasse mich kurz, denn Joachim Bauer
hat das mit seinem Buch Lob der Schule bereits erledigt. Dieses Buch kann jedem Lehrer und auch allen Eltern nur empfohlen werden. Es schafft, so behaupte ich, die Grundlage für ein neues und dringend notwendiges Verständnis von moderner und wirksamer Wissensvermittlung an unseren Schulen und vom erfolgreichen Zusammengehen von Lehrern, Schülern und Eltern. Joachim Bauers »Lob der Schule« ist keines, es gibt ja auch keinen Grund dafür. Doch sein Buch entwirft konkrete Vorschläge, wie ein Lob der Schule in absehbarer Zeit möglich werden könnte. Es erklärt, warum das deutsche Schulsystem in einer Sackgasse gelandet ist, die so schnell wie möglich - und mit viel Geld - verlassen werden muss. Im ganzen Buch ist keine Häme spürbar, nur die Hoffnung, dass Schulen wieder »Treibhäuser der Zukunft« (Bauer 2007, S. 35) werden müssen und dass ein umfassendes gesellschaftspolitisches Handeln und Umdenken dringend nottut, um den Patient »Schule« zu retten. Sonst wird aus dem Patienten »Schule« ein Patient »Deutschland«.
Schule und Eltern
Die Schule hat nicht nur unsere Kinder und Jugendlichen im Klammergriff und lässt sie immer öfter nach Luft schnappen. Ein Phänomen, das ich in der Praxis leider häufig beobachte, ist die Angst der Eltern. Aus selbstbewussten Eltern, die es im eigenen Leben ganz gut geschafft haben und mit einer begründeten Gelassenheit die Schullaufbahn ihrer Kinder begleiten könnten, werden plötzlich, man verzeihe mir den Ausdruck, Angsthasen. Wie viele Elterngespräche beginnen mit den Worten: »Es geht uns nicht so gut … meine Tochter/ mein Sohn hat in Mathe/in Deutsch/in Latein wieder völlig danebengehauen.« Und das auf die Frage, wie es ihnen, den
Eltern, geht! Oder den Eltern geht es gut, weil ihr Kind doch lesen, schreiben, rechnen kann, was ich selber schon vermutet, doch die Eltern angezweifelt hatten. Manchmal genügen ein paar schlechte Noten und die Eltern sehen Handlungsbedarf: Tests auf Dyskalkulie, Legasthenie oder ADHS sind die schnelle Folge.
Diese schnelle Abfolge von schlechten Noten und Diagnose entfaltet die Kraft eines Bumerangs. Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass eine Diagnose die Kinder zu besseren Schülern gemacht hätte. Im Gegenteil. Ein achtjähriger Junge kam nach einem Legasthenie-Test in die Stunde mit den Worten - und diese sind exemplarisch: »Mein Kopf ist nicht richtig … ich bin Lega…, ja, halt das, wo man nicht
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