Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
schreiben und lesen kann, hat der Arzt gesagt.« Daraufhin hat er das Lesen eingestellt.
Tests, das müssen wir Erwachsenen uns einfach klarmachen, hinterlassen im Kind einen schrecklichen Verdacht: nicht richtig zu sein. Eltern glauben oft, ihre häufig mehrfach getesteten Kinder würden diese Untersuchungen respektive Überprüfungen ihres geistigen Potenzials mit Naivität angehen. So in der Art: Da guckt jetzt halt mal ein Arzt nach, in meinem Kopf, so wie er mir in den Hals schaut oder die Ohren untersucht. Kinder sind nicht blöd. Jede nicht medizinische Untersuchung hinterlässt Verunsicherung, untergräbt ihr Selbstwertgefühl und ist ein Angriff auf ihr Verlangen nach Intaktsein.
Kinder mit der Diagnose Legasthenie wollen im Umgang mit Regelspielen, nach denen oft gegriffen wird, wenn ein Sicherheitsabstand zwischen Therapeut und Kind hergestellt werden soll, den Einfluss des Therapeuten in der Regel klein halten (übertragen: Die Mutter soll sich mal nicht einmischen). Dem Therapeuten wird dann etwa beim Spiel Monopoly das Kärtchen hingeschoben:
Kind: »Lies mal vor, was steht da drauf?«
Therapeut: »Du kannst doch selber lesen...«
»Nein, ich bin Legastheniker, meine Lehrerin liest mir in der Schule beim Diktat die Sätze auch extra vor.«
»Wir sind hier nicht in der Schule, und ich glaube nicht, dass du in der 3. Klasse nicht lesen kannst. Aber ich glaube dir, dass du Angst hast vor dem Lesen und dass diese Angst immer größer wird, bis du dann tatsächlich nicht mehr lesen kannst...«
Ich habe, mit einer Ausnahme, nie erlebt, dass Grundschüler am Ende der Therapie nicht lesen konnten.
Angst ist der Leistungskiller par excellence. Und die so beliebten schulbezogenen Diagnosen sind es leider ebenso. Es sei hier auch angesprochen, dass diese schulbezogenen modernen Diagnosen, wie Legasthenie, Dyskalkulie, Lernstörungen, Hyperaktivitäts- und Konzentrationsstörungen, ein ganz deutlicher Hinweis sind, dass die Schüler überfordert sind und die Schule, im Weiteren die Gesellschaft, ein Bildungssystem aufrechterhält, das die Kinder zu den »Schuldigen« und »Kranken« macht.
Ich habe zweimal Mütter in die Therapiestunde ihrer Kinder gebeten und die Kinder lesen lassen. Das hört sich jetzt auch nach Testsituation an. Doch diese Lesesituation war gut vorbereitet, das Kind sollte der Mutter einen bestimmten Inhalt übermitteln - nicht vorlesen. Mir ging es auch nicht ums Vorlesen: Ich wollte dem Gesicht der Mutter auf die Spur kommen, wenn ihr Kind liest. Ich wollte herausbekommen, was das Kind im Gesicht der Mutter sieht, wenn es vorliest. Ich hatte jeweils nur eine ungefähre Ahnung. Doch die Ahnung ist bestätigt worden: Im Gesicht beider Mütter waren Anspannung und Angst zu lesen. Und was die Therapeutin sofort erkennen konnte, musste auch dem Kind jedes Mal, wenn es zu Hause die Lese-Hausaufgabe machte, ins Auge stechen.
Ich habe mit beiden Müttern mehrere Stunden nur über ihren Gesichtsausdruck gesprochen. Mit der einen außerdem
über ihre gepresste Stimme, die zwischen abendlichem Flehen (»Das kannst du doch … bitte probier es noch einmal …«) und Drohen (»Wenn du es jetzt nicht richtig liest, machen wir heute Abend noch länger.«) hin und her schwang. Mit der anderen Mutter sprach ich darüber, dass sie kaum mehr atmete. Diese Mutter bekannte, dass sie jeden Tag, wenn ihr Sohn kein Lesen als Hausaufgabe hatte, erleichtert aufatmete. »Ich hasse es, mit ihm lesen zu müssen. Schon bevor wir uns hinsetzen, zieht sich bei mir alles zusammen. Ich sag mir zwar, bleib ganz ruhig, schrei ihn nicht an, verlier die Nerven nicht … und dann verlier ich sie doch.« Diese Mutter ist eine erfolgreiche Werbefachfrau, die in ihrer eigenen Schulzeit Lesen gehasst hatte, weil die eigene Mutter sie immer erst spielen gehen lassen wollte, wenn sie den Lesetext fehlerlos und flüssig vortragen konnte. Frau F. hat heute keine Probleme mehr mit Lesen. Doch etwas ist hängen geblieben und hat wieder angefangen zu rumoren, als ihr Sohn, dem sie eine gute Mutter ist, Schulkind geworden ist: »… diese fürchterliche Wut auf meine Mutter, wenn ich lesen musste und sie am liebsten auf einen anderen Planeten gesprengt hätte … nur weg, weg, weg!« Sie ergänzt noch, dass sie bei dem Lesedesaster mit ihrem Sohn kein einziges Mal an das kleine Mädchen gedacht hätte, das sie einmal war. »Ich hab es nur plötzlich genau gleich gemacht wie meine Mutter.«
Worum geht es hier? Um die Wiederkehr
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