Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
kluges Mädchen. Treppen, weißt du, sind zum Gehen da, nicht zum Zählen. Hast du das nicht gewusst, es ist wirklich so.« Sie schaute mich an und meinte, schon etwas getröstet: »Aber der Papa hat gesagt, du kannst ja immer zählen, wenn du eine Treppe hochgehst...« - »Dein Papa sagt viel Richtiges, er ist ja gescheit, aber da hat er Blödsinn erzählt.« - »Sagst du das dem Papa?« - »Ja, das tue ich.«
Früher war die Einschulung noch ein aufregendes Abenteuer. Heute ist sie für viele Kinder die erste leise Ahnung von einem möglichen Scheitern. Und diese Ahnung müssen wir Erwachsenen uns anrechnen lassen. Kinder denken mit sechs Jahren noch nicht in Kategorien von Erfolg und Scheitern. Das ist »Erwachsenendenke« (so Marco, ein Jugendlicher, in einem anderen Zusammenhang).
Das Argument, dass die Zeiten heute so sind, dass wir die lernfähigen Kleinkinder möglichst früh schon fördern und schulen müssen, damit sie unserer anspruchsvollen Berufswelt später standhalten können, ist schon im Ansatz falsch. Wissen wird überschätzt, eine starke und ausgeglichene Persönlichkeit unterschätzt. Was hilft es, wenn wir kleine, möglichst mehrsprachige Roboter heranzüchten, deren linke Gehirnhälfte zwar hervorragend gefördert worden ist, doch die nie richtig gelernt haben, sich zu begeistern und diese Begeisterung auch nicht kommunizieren können? Die nicht wissen, wie man Freunde gewinnt, die sich nicht in einer Peergroup einordnen können, auf Kritik mit Aggression oder Scham reagieren, in die Schule gehen wie auf eine Bühne? War wieder mal nichts mit der Hauptrolle, wieder nur eine Nebenrolle, der Lehrer hat gar nicht gemerkt, dass ich da war … Oder ich war wieder nur der Bösewicht, na ja, besser als gar keiner, die guten Rollen kriegen eh immer nur die anderen! Ein aufgeweckter Jugendlicher, der sich gerne mit den Lehrern anlegte und Verweise sammelte, sagte einmal ganz trocken: »Die Schule, was ich davon halte? Halt so eine Veranstaltung … blöd ist nur, dass sie jeden Tag stattfindet.«
Die (Regel-)Schule ist ein Anachronismus. Er wird mit ziemlich viel Naivität hochgehalten. Worin besteht diese Naivität? Sie besteht in der nach wie vor ausgiebigen Pflege der linken Gehirnhälfte. Schulen leben immer noch vom Primat der Wissensvermittlung. Das G8-Modell an den Gymnasien hat das noch verschärft. Wenn man Eltern und Schülern und auch immer mehr Lehrern zuhört, ist in Bezug auf die pure Stoffpaukerei noch einiges hinzugekommen. Ein Gymnasiallehrer meinte dazu: »Die Eltern haben doch recht: Der Stoff ist gleich geblieben - nur haben wir weniger Zeit als zuvor für die Stoffvermittlung.«
Das emotionale Echo
Der Jugendliche kämpft, auch im Schulzimmer, um seine Unverwechselbarkeit. Er möchte sich sichtbar machen, wahrgenommen werden, und zwar nicht als Kopie eines Vaters, der etwa Arzt ist und vielleicht noch im Elternbeirat sitzt, oder eines Vaters, der Immigrant ist und keine Schulbesuche macht, weil er sich diese formellen Begegnungen nicht zutraut. Er möchte als er selber wahrgenommen werden. Aber was heißt »als er selber«? Das ist ja das Problem: Die Jugendlichen wissen es selber nicht so genau. Sie üben sich in allen möglichen Rollen, schlüpfen mal in die Rolle des Störenfrieds, dann des Klassenclowns, dann des Besserwissers, des Strebers, des Lehrerverstehers, des Sorgenkindes, des verkannten Genies, des Nihilisten … Noch spielen sie nur diese Rollen, sie gehen in keiner vollends auf. Und manchmal möchten sie sogar, dass man ihnen auf die Schliche kommt, sie aus einer Zuschreibung wieder herausholt, die ihnen schon das zweite, dritte Jahr an dieser Schule anhaftet. Jugendliche sind hoch emotionale Geschöpfe, Grenzgänger in ihrer eigenen seelischen Befindlichkeit.
Wie begegnet man als Erwachsener diesen Grenzgängern, zu Hause wie in der Schule?
Die Antwort kann nur lauten: mit Emotion. Eltern und Lehrer, die den Mut haben, sich zu zeigen - natürlich im Normalfall nicht unkontrolliert -, finden den Dialog mit den Pubertierenden. Ein Lehrer, der nur die linke, rationale Gehirnhälfte glaubt bedienen zu müssen und zu können, steht bei Jugendlichen schnell im Abseits. Jugendliche suchen nicht nur eine gute Beziehung zu sich selber, sie suchen auch die Beziehung zum anderen, denn darin können sie sich erleben. Warum ist die Emotion so wichtig? Weil sie Ausstrahlung verleiht.
Eine 17-jährige Patientin litt oft unter der Wirkung ihrer gleichaltrigen Freundin,
Weitere Kostenlose Bücher