Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Dauerzustand hat jedoch wieder einen etwas schalen Beigeschmack, den wir vorhin schon beim Erstellen von frühen Diagnosen festgestellt haben. Es bestätigt beim Nachhilfeschüler den Verdacht, es ohne Hilfe gar nicht schaffen zu können. Und das ist keine sein Selbstvertrauen fördernde Einsicht.
Wenn Eltern, statt in Panik, hilflose Drohgebärden oder mehrfächerige Nachhilfe-Rettung zu verfallen, beim Anblick ihres stofflich unsicheren Kindes ganz ruhig mit ihm zusammen nach einem Ausweg suchen würden, wäre allen geholfen. Seltsamerweise löst die Bemerkung eines Kindes, etwas nicht verstanden zu haben, bei Eltern oft nicht den erwarteten Trost aus, der sich so anhören könnte: »Du, man kann auch nicht alles immer gleich können. Glaubst du, ich hab in der Schule früher gleich alles kapiert? Wer kann denn schon alles auf Anhieb!« Das mutige Eingeständnis des Kindes, Angst zu haben vor der Klassenarbeit am übernächsten Tag, wird oft mit Angst beantwortet. »Komm, ich ruf gleich den Nachhilfelehrer an, vielleicht hat er morgen noch eine Stunde Zeit?« »Wir setzen uns heute Abend hin - oh Mist, heute Abend bin ich im Elternbeirat … ja, dann kann ich halt nicht hingehen.« »Du hast noch den ganzen Abend Zeit, und morgen lässt du
Hip-Hop/Judo/deine Freundin ausfallen.« »Warum merkst du das erst zwei Tage vorher, ist das wieder ein Stress...«
Eltern vergessen in solchen Augenblicken, dass ihr Kind nicht Hektik und Aktion, sondern Beruhigung sucht. Vor allem aber sucht es bei seinen erwachsenen und im Leben stehenden Eltern ein ihm nicht mehr mögliches angemessenes Einordnen des Geschehens. Es geht nicht um Leben und Tod, es geht »nur« um eine von mehreren Klassenarbeiten.
Wir haben ein Schulsystem, in welchem dieses kleine Wörtchen »nur« verschwunden ist. Wann ist es untergegangen? Mir will bei dieser Frage scheinen, dass es noch vor gut zehn Jahren vereinzelt vorgekommen ist und dass es damals noch Eltern gegeben hat, die ihr Kind aufgeklärt haben. »He, du machst ja ein Gesicht, als ob dein Leben auf dem Spiel stünde … ist doch nur eine Note!« So oder ähnlich haben einzelne Eltern damals noch gesprochen. »Du wirst noch viele Noten sammeln, da können auch einmal Nieten drunter sein, jetzt mach nicht so ein Kummergesicht …« Vielleicht haben sie ihr Kind auch einfach in den Arm genommen: »Das wird schon, Kopf hoch, mach, was dir möglich ist, bist trotzdem mein Schatz, auch wenn’s diesmal in die Hose geht.«
Es findet keine Einordnung ins Leben mehr statt. Ich habe mindestens einmal in der Woche ein jugendliches Mädchen dasitzen, das wegen einer »schlechten« Note weint. Oder einen Jugendlichen, der nicht weint, das kommt selten vor, dafür aber flucht, die Schule verdammt, sie am liebsten aus seinem Erlebnishorizont ausblenden würde, seine Aggressionen anderswo ausagiert. Jungen, oft intelligente Burschen, bevorzugen das Mittel der Lernverweigerung.
Eltern, die sich auf die Kunst der Einordnung oder Relativierung von Schulnoten verstehen, sind eher selten geworden. Die Medien haben da durchaus eine Mitverantwortung,
die Wirtschaft und die Gesellschaft ebenso. Wenn in den Zeitungen steht, dass es keine Arbeit, sprich: keine Zukunft mehr gibt ohne Abitur, glauben das die Eltern. Was schwarz auf weiß dasteht, muss stimmen. Was nicht geschrieben wird: dass durch das Abitur gepeitschte, angepasste und leidenschaftslose Jugendliche auch keine rosa Berufsaussichten haben.
Gott sei Dank findet ganz, ganz langsam eine gesellschaftliche Neubesinnung statt: Das Abitur ist nicht mehr automatisch die Eintrittskarte in den Klub der Erfolgreichen und Wohlhabenden. Sondern so »altmodische« Dinge wie Selbstvertrauen, die richtige Einschätzung der eigenen Schwächen und Stärken, Leistungsbereitschaft, gute Selbstund Menschenkenntnis etc. sind wieder gefragt. Auch und gerade in der Wirtschaft. Dazu kommen Mehrsprachigkeit, ein absolutes Muss in einer globalisierten Welt, und eine gute Allgemeinbildung.
Schule und Schüler
Das wichtigste Pfund einer Schule, die wieder ein »Treibhaus der Zukunft« werden soll, sind die Schüler selber.
Wir haben es heute mit einer anderen Schülergeneration als früher zu tun. Es ist vermutlich, was das Auftreten anbelangt, die selbstbewussteste junge Generation, die es je gegeben hat. Die Jugend von heute ist weltkundig. Ferien werden in Amerika, in Asien, in Afrika verbracht. Man reist nicht alle paar Jahre ins Ausland, sondern jährlich. Fast jeder
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