Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
»Kein Schüler wird ausgelacht« so viel Aufmerksamkeit vonseiten der Erwachsenen zugeflossen ist. Ein Mädchen kommentierte einen anderen der Leitsätze beziehungsweise Gebote »Wir dürfen die Lehrer nicht beschimpfen« mit der Ergänzung: »Und ihr uns auch nicht!« Worauf der Schulleiter ihr in die Augen sah und mit großem Ernst erwiderte: »Das stimmt, das gilt für uns genauso.« Jede Klasse hat einen Paten, der, da die Schule zum benachbarten Kloster gehört, ein Mönch ist.
In den Schulstunden wird konzentriert gearbeitet, etwa an Lessings Emilia Galotti , und den Schülern auch etwas abverlangt. Es ist, so mein Eindruck, keine Kuschelschule der Art: »Seid mal nett zu uns, dann sind wir es auch zu euch - und so haben wir es alle nett miteinander.« Es gibt einen ganz klaren Leistungsanspruch, dem sicherlich nicht alle Schüler mit gleich großer Leidenschaft folgen. Auch hier gibt es Schüler, die auf die große Pause warten. Doch fällt auf, dass kein Chaos herrscht in den Schulstunden. Hier gibt es keine Schüler, die durch eigene, inhaltsferne Aktivitäten den Unterricht blockieren, wie ich es an anderen Schulen erlebt habe (zum Beispiel Beine auf dem Tisch, Essen des Pausenbrots, zwei Schüler unterhalten sich ungestört die gesamte Stunde über ein Videospiel, der Lehrer wird ignoriert oder beleidigt). Es gibt auch hier Schüler, die sich langweilen - doch sie stören den Unterricht nicht. Ein 17-Jähriger, den ich nach einer Emilia-Galotti -Stunde ansprach, weil er die ganze Stunde über mit dem Schlaf kämpfte, meinte ruhig: »Also, Deutsch interessiert mich einfach nicht so. Mathe und Physik - klasse, aber Deutsch, ne … Und ich bin gestern ziemlich spät ins Bett, bin nicht so drauf heute...«
Eine ganz normale Haltung. Wir Eltern und Erwachsenen vergessen so schnell, dass auch wir in unserer Schulzeit nicht immer präsent waren, stoffbedingt oder altersbedingt. Haben wir uns für alle Fächer interessiert? Wohl kaum.
Eltern und Lehrer beunruhigt bei Pubertierenden oft die vermeintliche Untätigkeit. Eine Mutter zeigt sich erschreckt über das angebliche Nichtstun ihres Sohnes am Wochenende. »Den kriegt man nicht aus seinem Zimmer raus. Der macht das ganze Wochenende nichts, einfach nichts.«
Man sieht nichts. Doch bedeutet das automatisch, dass da auch nichts ist? Die Aufmerksamkeit für die vertraute äußere Welt der Familie und der Gesellschaft ist abgezogen worden. Jugendliche erforschen nicht mehr begierig wie die
Kinder, die sie einmal waren, ihre Umwelt. Sie tauchen in ihre Innenwelt ein, suchen sich, beschäftigen sich mit der Person, die sie einmal sein möchten oder glauben, sein zu müssen - damit sie als Erwachsene bestehen können. Jugendliche sind Utopisten im besten Sinne des Wortes. Schwerarbeiter, wenn es darum geht, sich und eine Welt, in der sie einmal leben möchten, zu entwerfen.
Ich kenne keinen Entwicklungsabschnitt, der dermaßen von schöpferischer Unruhe und emotionaler Ungeborgenheit geprägt ist. Diese Ungeborgenheit kostet unsere Jugendlichen viel Kraft. Auch wenn das für Eltern- oder Lehreraugen nach Nichtstun aussieht. Nach chillen, chillen und nochmals chillen. Ein Vater: »Chillen, das ist wie ein rotes Tuch für mich! Wenn ich meinen Sohn bitte, was zu tun, hör ich: Lass mich in Ruhe, will endlich mal chillen. Kann man in diesem Haus nicht endlich mal vernünftig chillen? Muss ich woanders hin... den Scheiß hör ich mir alle paar Tage an...«
Dieses Wörtchen »chillen« riecht für uns Erwachsene nach Ausrede und Ausbüxen. Sicherlich ist auch etwas Ausbüxen vor den Erwartungen und Ansprüchen der Erwachsenen dabei. Doch es ist vor allem: ernst gemeint. Jugendliche befinden sich in einem geistig-seelischen Vakuum. Papas, Mamas und Lehrers Überzeugungen von der Welt können nicht mehr wie eine gut passende Jeans übergestreift werden. Eigene Klamotten müssen her - eigene Überzeugungen sollen es sein. Die Erwachsenen erfahren in diesem Entwicklungsabschnitt, durch den sich die Jugendlichen gerade bewegen, eine enorme Einbuße an Attraktivität, sowohl äußerlich wie innerlich betrachtet. Sie müssen unattraktiv werden und ebenso ihre Gedanken, Haltungen und Sichtweisen zur Welt. Sie werden für die Jugendlichen langweilig. Ein Problem, auch für Lehrer! Setzen wir Erwachsene auf die Zeit. Die Pubertät geht vorbei. Auch das gelangweilte Gesicht
unserer Jugendlichen, dem Lehrer natürlich auch in der Schulstunde begegnen!
Ein Umstand, auf den die
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