Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Kind ist psychisch noch zu wenig getrennt von den Eltern, um zwischen deren Not und der eigenen unterscheiden zu können. Kinder können die Probleme ihrer Eltern nicht lösen. Doch noch schlimmer als der Umstand, dass die Großen unglücklich sind, ist für Kinder das eigene Gefühl der Ohnmacht und der Umstand, dass sie nicht so geliebt werden können, wie sie es verdienten. Welche Eltern können denn wirklich lieben, wenn sie ihr eigenes Leben nicht lieben!
Das ohnmächtige und sich wenig geliebt fühlende Kind entwirft aus sich das ihm einzig Machbare: ein böses und mächtiges Kind. Dieses Kind lebt leichter als sein Zwilling, das ungeliebte und schwache Kind.
Der Jugendstrafvollzug müsste viel mehr diese Tatsachen einbeziehen. Kinder und Jugendliche sind so lange »böse«, wie sie auf keine liebevollen Verhältnisse stoßen. Eine Schwierigkeit kommt allerdings dazu: ihre Abwehr der Tatsache, dass sie wenig Gutes bekommen haben. Manchmal behalten sie lieber ihre Zweit- oder Notidentität des bösen Jungen oder des bösen Mädchens, als erkennen zu müssen, wie wenig Achtung und Wertschätzung sie in ihrem jungen Leben bis jetzt erfahren haben. Das tut einfach weh.
Das Jugendstrafrecht misst den jugendlichen Täter an seinen Taten. Das ist zu wenig und nicht die ganze Wahrheit. Jeder jugendliche Täter hat eine Opferbiografie. Natürlich gehen seine Eltern nicht an die Öffentlichkeit und sagen, dass sie ihm - aus welchen Gründen auch immer - nicht das Gefühl haben geben können, ein wertvoller Mensch zu sein. Manchmal ist es einfach peinlich und beschämend, wie überrascht und entsetzt sich solche Eltern vor laufender Kamera
geben. Meistens passiert dann übrigens eine Retraumatisierung: Die Eltern, die dem Kind nie richtig zugewandt waren, wenden sich nochmals ab, lassen das Kind, ihr Kind, wieder in den Brunnen fallen. Ein Vorgang, den ihr Kind kennt, sonst hätte es keinen anderen in den Brunnen geworfen. »Eigentlich verstehen wir das überhaupt nicht«, ist dann der Grundtenor dieser elterlichen Distanzierung. »Eigentlich ist uns dieses Kind fremd und unbekannt.« Wann erleben wir nachdenkliche, selbstkritische Eltern in solchen Situationen? Sicherlich, es sind auch für diese Eltern Extremsituationen. Doch die Sympathie der Zuschauer wäre ihnen gewiss. Man kann als Eltern nicht alles richtig machen. Doch man kann sich als Eltern untereinander in der Sorge verstehen, dass die Erziehung aus dem Ruder laufen könnte. Welche Eltern haben nicht zumindest einmal so einen sorgevollen Gedanken gehabt!
Jeder jugendliche Straftäter bräuchte einen Paten, der ihm bei der Bewältigung des Strafmaßes und bei der Resozialisierung zur Seite steht. Ich spreche bewusst nicht vom professionell geschulten Sozialarbeiter, sondern von einem Menschen, der sich für eine zeitlich begrenzte Patenschaft mit diesem einen Jugendlichen entschieden hat. Von Bedeutung ist hier die willentliche und persönliche Entscheidung für diesen Heranwachsenden, nicht die formale Zuteilung eines Sozialarbeiters. Ein Jugendlicher, der gerade noch am Jugendknast vorbeigeschrammt ist, hat knapp und nüchtern seine wöchentlichen Gespräche mit dem Sozialarbeiter beschrieben als »Job … der macht halt seinen Job … ich glaub nicht, dass der mich wirklich mag, na ja, der konnte mich ja auch nicht aussuchen...« - »Wärst du denn gern ausgesucht worden?« Mit einem etwas verlegenen Lächeln meinte er - und ich fand seine Antwort ziemlich mutig: »Hätte nichts dagegen...« - »Vielleicht möchtest du auch wissen, ob ich dich ausgesucht hätte? Ein klares Ja.«
Dieses klare Ja war in seinem Fall nicht allzu schwer. Es ist allerdings nicht immer so einfach. Manchmal gelingt die Therapie nicht so, dass ich sicher sein kann, dass er/sie nicht wieder abrutscht. Doch gerade dieser Jugendliche hat mir deutlich gemacht, wie wichtig die Erfahrung für einen jungen Menschen ist, gewollt und in diesem Leben willkommen zu sein. Wir Erwachsenen sollten immer im Hinterkopf behalten, dass solche sich selber ein Stück abhandengekommene Jugendlichen statt einer besseren Möglichkeit eine Straftat begangen haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Bevor sie sich ganz verloren gehen, weil kein freundlicher Spiegel ihnen entgegengehalten wird, schlüpfen sie halt in das Kostüm des Dr. Jekyll. Immer noch besser, als gesichtslos dazustehen und ein Niemand zu sein. Oder ein Nichts, wie es Johnny Cash im großartigen autobiografischen Film Walk the line
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