Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
bewegen wir uns auf die Welt zu und zum Du hin. Vielleicht behaupten jetzt manche Eltern vorschnell, dass dieses kleine Wörtchen vorzugsweise dann fällt, wenn sie ihren Kindern gerade eine Grenze gesetzt haben. So in der Art: »Warum dürfen andere Kinder länger aufbleiben als ich?« »Warum darf meine Freundin erst um Mitternacht nach Hause kommen, ich muss aber schon um 23 Uhr da sein?« Dieses Warum fällt auch, doch das andere, von welchem hier vor allem die Rede ist, fällt viel häufiger:
• »Warum liest du in meinem Tagebuch, Mama?«
• »Warum streitet ihr so oft, du und Papa?«
• »Warum bist du eigentlich ständig schlecht gelaunt, Papa?«
• »Warum habt ihr so wenig Vertrauen in mich?«
Wenn Kinder oder Jugendliche über ihre Eltern sprechen, höre ich viele Fragen. Manchmal sind es Fragen, welche die Kinder wirklich gestellt haben und von den Eltern, weil sie ihnen peinlich waren oder sie sehr ehrlich hätten antworten müssen, »vergessen« oder ignoriert worden sind. Oft sind es jedoch Fragen, die gar nicht artikuliert worden sind. Sie verfolgen die Jugendlichen, beschäftigen sie, wenn sie gerade nicht abgelenkt sind, in der Schule, in einer stillen Minute oder nachts im Bett. Wenn dann die mir gestellte Frage mit einer Gegenfrage beantwortet wird: »Warum fragst du nicht einfach die Eltern?«, kommt oft zurück: »… weiß nicht, ist mir irgendwie unangenehm … oder dann kommt eh nur, geht dich nichts an … oder sie drucksen dann so blöd herum oder flippen aus...«
Jugendliche verschließen sich vor Eltern, welche immer noch glauben, alles für ihre Kinder entscheiden und bestimmen zu müssen. Eltern, die einem Pubertierenden weitgehend
mit Verhaltensanweisungen und Vorschriften begegnen, erleben schwierige Ablösungsjahre. Väter, die - oft aufgrund beruflicher Belastung - vieles nicht mitbekommen und dann plötzlich als der große Zampano auftreten oder eine Mischung aus Inquisitor und Zuchtmeister zur Aufführung bringen, haben schlechte Karten.
Ich glaube nicht an Zauberhandlungen oder -worte. Doch es gibt in solch verfahrenen Situationen eine Art der Kontaktaufnahme, die selten scheitert. Wenn Eltern nicht mehr inquisitorisch dem Kind Fehlverhalten vorwerfen und Sanktionen aussprechen und ein »Du musst«, »Du sollst« und »Du hast« nach dem anderen anhäufen, sondern von sich sprechen, beginnt der Jugendliche zuzuhören.
Am besten ist das übrigens in der Schule zu beobachten: Lehrer, die mit Ich-Botschaften vor die Klasse treten, haben eine aufmerksame Klasse vor sich. Was ist gemeint mit Ich-Botschaften? Darunter sind persönliche Stellungnahmen zu verstehen. Sobald ein Lehrer in kritischen Augenblicken, und um solche geht es auch hier, den Schülern nicht mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen kommt, sondern ihnen zeigt, wie er sich fühlt, wie es in ihm drinnen aussieht, hat er aufmerksame Zuhörer. Der Lehrer riskiert etwas, die Schüler honorieren es und werden bereit, sich einzufühlen. Ihnen ist gerade ein Angebot zur Ehrlichkeit gemacht worden. Die persönliche Stellungnahme des Lehrers erschwert ihnen weitere Rücksichtslosigkeit. Ab einem solchen Moment ist ihr Lehrer kein undurchschaubares Wesen mehr, das man ganz nach Lust und Laune manipulieren, übersehen, ignorieren kann und das einen inquisitorisch verfolgt und bedrängt, sondern jetzt hat man ein Subjekt gegenüber und muss selber subjektiv Stellung beziehen. Gleichgültigkeit ade.
Wenn Eltern zu sprechen beginnen und keine Vorträge mehr halten über richtige Lebensführung, gegen die der
Sohn oder die Tochter gerade wieder einmal peinlichst verstoßen hat, bekommen sie Zuhörer. Die Kinder dürfen dabei ruhig merken, dass den Eltern dieses Sprechen schwerfällt.
Was haben Eltern in so einem Gespräch zu bieten? Eine viel längere Sicht aufs Leben! Erfahrungen von Stolpern und wieder auf die Beine kommen, Verletzungen, die arg waren und doch wieder verheilt sind. Berge, die hoch waren und doch genommen wurden. Mächtige Selbstzweifel, die durch stetig wachsendes Selbstvertrauen abgelöst werden konnten. Kleine und größere Erdbeben, die es nicht geschafft haben, die Eltern dem Erdboden gleichzumachen. He, Kinder, möchte man dann rufen, ihr habt es mit Experten zu tun! Schade nur, dass viele Kinder gar nicht erfahren, was ihre Eltern alles schon bewältigt haben. Diese Kinder sehen in ihren Eltern oft nur Zuchtmeister, Freiheitsberauber, manchmal schlichtwegs nur Langweiler.
Ich sitze manchmal da,
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