Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
bin der König«
Andreas kommt wenige Wochen nach der Einschulung in die Spieltherapie, weil die in den Sommerferien davor ausprobierte Klingelmatratze, Flüssigkeitsreduktion, Kalender mit
entsprechenden Belohnungen für einnässfreie Nächte etc. nicht geholfen haben. Die Eltern sind völlig ratlos. Andreas habe mit Beginn des Kindergartens wieder regelmäßig nachts einzunässen begonnen. Er sei davor nur wenige Monate trocken gewesen. Kurz nach der Geburt seines kleinen Bruders habe er wieder auf einer Windel bestanden. Eine normale Reaktion, könnte man sagen. Er erlebt, wie die Mutter sich intensiv dem Neugeborenen zuwendet, und möchte selber wieder so klein sein und ganz im Mittelpunkt der mütterlichen Aufmerksamkeit stehen. Die Beziehung zwischen Andreas und seiner Mutter vor der Geburt des kleinen Bruders wird vom Vater als »sehr nah... da passt keiner dazwischen« beschrieben. »Sie auch nicht?« Der Vater, ein eher zurückhaltender und schüchterner Mann, überlegt eine Weile und meint dann verlegen: »Doch, schon... na ja.«
Im Verlauf der Therapie stellt sich heraus, dass Andreas bis zur Geburt seines Bruders oft im Bett der Eltern übernachten durfte. Andreas’ Mutter plagen offensichtlich Schuldgefühle, dass sie ihrem Sohn einen zweiten Jungen vor die Nase gesetzt hat. Und in den folgenden Jahren kommt es zu einem sehr nachlässigen Umgang mit seinem Einnässen. »Andreas hatte doch so gelitten unter seinem Bruder, er war es doch gewohnt, dass ich für ihn viel Zeit hatte, und plötzlich war es mir fast zu viel mit zwei Kindern. Ich hab gedacht, das kommt schon...« Doch »es« kam nicht.
In der Therapie überträgt Andreas seine Anhänglichkeit an die Mutter schon bald auf die Therapeutin. Er benutzt mich als Spielkamerad, den er in der Schule nicht richtig finden kann, da die anderen Jungen »nie das machen, was ich will«. Die Spuren anderer Therapiekinder, etwa ihre Tonfiguren oder Bilder, übersieht er geflissentlich.
»Hast du schon auf mich gewartet, ich bin auch gerannt«, ruft er einmal atemlos und platzt aufgeregt ins Zimmer hinein. Eine Ernüchterung tritt ein, als ich im Spiel eine
Vaterfigur auftreten lasse, die den Jungen liebevoll, doch bestimmt aus dem Ehebett hinauswirft. Andreas ist empört: »Ich hab doch gesagt, es gibt hier keinen Vater, der ist... gestorben.« -»Ich glaube, der kleine Junge da im Spiel wäre sehr enttäuscht, wenn es keinen Vater gibt, er kann doch nicht alles von der Mutter lernen, die ist doch eine Frau und er wird einmal, wie sein Papa, ein Mann.« Andreas schreit mich an, ist ganz außer sich: »Der wird kein Mann, der bleibt so... so...« - »Klein?« Er fällt aus dem Spiel heraus und meint: »Ich bin nicht klein, Mama sagt, ich bin ein Großer... und Papa will ich nie werden, Papa sein macht keinen Spaß.«
Es würde zu weit führen, hier aus psychodynamischer Sicht die komplexen Verwirrungen und Verstrickungen dieses Jungen auszuführen. Doch es wird deutlich, wie kompliziert dieser Junge seiner eigenen Geschlechterrolle und der Loslösung von seiner Mutter gegenübersteht. Wo soll er denn hingehen, wenn er sich von der Mutter innerlich trennt? Der Vater, so das feine Empfinden von Andreas, scheint ja nicht auf ihn zu warten. Der Vater reagiert sehr betroffen auf die ihm in meinen Worten übersetzte Botschaft seines Sohnes und empfindet schmerzlich, wie sehr ihn sein Sohn als Abwesenden erlebt und als entschlossenen Bündnisgenossen im Kampf um Loslösung und Autonomie vergeblich sucht und ersehnt.
Sandra: »Ich mach alles selber«
Die achtjährige Sandra zeigt sich von Anfang an sehr selbstständig und ehrgeizig in den Therapiestunden. Sie ist kreativ, begeistert mich mit ihren Einfällen. Sie ist eine sehr gute Schülerin. Ihre zwei großen Brüder hat sie, was Sorgfalt und Verlässlichkeit zu Hause und im Umgang mit Hausaufgaben anbelangt, »schon lange überholt«, so die Mutter. Beide Eltern sprechen mit spürbarem Stolz von ihrer kleinen Tochter,
und der von der Familie getrennt lebende Vater meint: »Die wird mal, wenn sie so weitermacht, eine tolle junge Frau.«
Das Symptom gerät sogar bei mir immer wieder in Vergessenheit. Braucht dieses Mädchen wirklich eine Therapie?, so meine Gedanken. Tatsächlich aber nässt Sandra fast täglich sowohl tagsüber wie in der Nacht ein. In der Therapie wird erst nach einer Weile spürbar, wie sehr sich Sandra anstrengt, um mir zu gefallen. Sie holt sozusagen das Letzte aus sich heraus, um meine
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