Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
sie im anamnestischen Gespräch »vergessen« hatte zu erwähnen) und war gleich wieder schwanger geworden. »Hab damals geglaubt, ich hätte das bewältigt, doch wie Alex dann da war, war ich irgendwie weg, er war mir gleichgültig.« Ihr Mann konnte in einem sehr anrührenden Elterngespräch mein Gefühl bestätigen, dass er unbewusst Alex die Schuld am schlechten Zustand seiner Frau gegeben hatte: »Ich hab mich kaum um ihn gekümmert.« Alex hatte also keine empathischen Eltern gehabt, die sich auf seine inneren Gefühlszustände hätten einschwingen können, die ihm ein Gefühl von Bedeutung und Wirkmächtigkeit vermittelt hätten. So wie sie seine Gefühle nicht lesen konnten, so war auch sein intellektueller Anreiz gering, die Gefühle anderer lesen und interpretieren zu lernen. Er blieb in einer Gefühlsisolierung und emotionalen Einsamkeit gefangen, die er mit Größenfantasien notdürftig auffüllte und ständig bestätigt haben wollte durch andere. Wenn andere mit ihm zusammenstießen, konnte er sich und andere zumindest im körperlichen Aufprall spüren. Dann existierte er. Jeder Regelverstoß sicherte ihm Kontakt. Denn Regelverstöße lässt sich die Umwelt nicht gefallen.
Seine Leseschwäche war nur die symbolische Umsetzung seiner nicht erfahrenen und nur in Ansätzen verinnerlichten Beziehungsmuster, die man so darstellen könnte: Man interessiert sich nicht für mich, also interessiere ich mich auch nicht für andere. Warum soll ich mich für die kulturellen Produkte, Worte, Sprache, Spielregeln anderer begeistern? Alex’ Lernfähigkeit war in diesem Klima von Gleichgültigkeit und mangelnder Spiegelung nicht zur Entfaltung gekommen. Er sagte: »Was da in den Lesebüchern drinsteht, find ich langweilig, da steht ja nichts über mich drin.«
So ist ein seltsam wirkender Satz sowohl für mich, seine Therapeutin, wie auch für die Eltern und seine Lehrerin allmählich, im Laufe von zwei Jahren, lesbar geworden. Wir alle
zusammen haben Alex gezeigt, wie wichtig es für uns ist, ihn und seine Gefühle lesen zu lernen - und er hat mit einer erstmals empfundenen Freude am Lesen geantwortet. Nicht nur die Eltern, auch seine Zweitklasslehrerin und die nachfolgende Lehrerin haben ihm viel »Lesebereitschaft« bezüglich seiner Gefühle entgegengebracht.
Einnässen
Von Einnässen (Enuresis) wird gesprochen, wenn ein Kind nach Vollendung des vierten Lebensjahres im Schlaf noch bettnässt. Das nicht organische Einnässen (und das ist meistens der Fall - organisches Einnässen kommt nur ganz selten vor) ist eine psychosomatische Krankheit, der meistens eine Entwicklungsstörung zugrunde liegt. Es tritt vorwiegend als nächtliches Einnässen, aber auch als Einnässen am Tag auf. Manchmal ist auch beides zusammen möglich. Zudem wird unterschieden zwischen dem primären (das Kind ist nie trocken gewesen) und dem sekundären Einnässen (das Kind war schon einmal trocken und verliert dann wieder die Fähigkeit zur Harnkontrolle).
Enuresis kommt in der psychoanalytischen Kinderpraxis am häufigsten vor und zählt zu einer der am meisten verbreiteten psychosomatischen Erkrankungen im Kindesalter. In der Altersgruppe der Fünfjährigen sind etwa 10 bis 20 Prozent betroffen, bei den Zehnjährigen drei bis fünf und bei den 12- bis 14-Jährigen noch zwei Prozent (Heinemann/ Hopf 2008, S. 219).
Einnässenden Kindern wird die Loslösung von den Müttern oft erschwert. »Die anale Selbstkontrolle steht prototypisch für die Loslösung und Individuation des Kindes aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter. Eine rigide, enge
symbiotische Verwöhnung der Kinder schwächt diese in ihrem Streben nach Autonomie.« (Heinemann/Hopf 2008, S. 222) In Familien einnässender Kinder beobachten wir oft eine überkontrollierende und nicht angemessene Einmischung der Eltern auf die Triebbedürfnisse des Kindes. Die aus purer Not oft angewandte Klingelmatratze und Klingelhose oder die von der Verhaltenstherapie empfohlenen Wochenpläne mit genauen Aufzeichnungen jedes Toilettengangs sind ein Ausdruck dieser Kontrollvorgänge, denen sich ein einnässendes Kind oft ohne Protest unterwirft. Dieser Protest gegen die Überwachung seiner intimen urethralen Bedürfnisse zeigt sich dann beim Kind allerdings in einer ambivalenten Beziehung zur Mutter: Es klammert an ihr und behandelt sie gleichzeitig schlecht. Es entsteht eine sadomasochistische Beziehung, die eine Mutter mit den treffenden Worten beschreibt: »Er will, dass ich überallhin
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