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Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern

Titel: Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kösel
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lieb«, so Svens Eltern. Oft ergibt sich in solchen Fällen eine unbewusste, manchmal sogar bewusste Verbrüderung gegen den »blöden« Lehrer. Sicherlich gibt es »blöde« Lehrer, die sich ein schwieriges Kind zum Sündenbock auserkoren haben und es aus dieser Rolle nicht mehr entlassen. Doch viel häufiger haben die Lehrer intuitiv erkannt, dass bei dem jeweiligen Kind eine Aggressionsentwicklungsstörung vorliegt, welche die Eltern nicht wahrhaben wollen.
    Eltern, die nicht erst auf sozialen Druck hin einen Therapeuten aufsuchen, sondern selber unter den Aggressionen
ihres Kindes leiden oder diese im Kontakt mit anderen Kindern oder Erwachsenen wahrnehmen, bringen eine Eigenmotivation mit, die sich therapeutisch ganz anders nutzen lässt. Auch die Kinder solcher Eltern sind anders motiviert, weil sie unter ihren Schuldgefühlen leiden. »Eigentlich möchte ich gar nicht böse sein, aber ich bin es halt«, sagt der kleine Peter ganz zerknirscht zu mir in einem Erstgespräch.
    Es ist hier vor allem von Jungen die Rede. Die nicht geglückte Aggressionsbewältigung ist nach wie vor geschlechtsspezifisch geprägt. Es sind vor allem Jungen, die wegen Aggressionsdurchbrüchen in der kinderanalytischen Praxis vorgestellt werden. Mädchen können zwar genauso unter einer Aggressionsentwicklungsstörung leiden, doch wirkt sich diese nach wie vor eher in Formen der Autoaggression, also Selbstverletzung und Depression, aus. Allerdings ist unübersehbar, dass es zunehmend eine Austauschbewegung gibt: Die Mädchen werden körperlich aggressiver, die Jungen depressiver. Da ist eine Entwicklung im Gange, die uns nachdenklich stimmen sollte.
    Ich benutze hier ganz selbstverständlich den Begriff Aggressionsentwicklungsstörung, obwohl er im internationalen Diagnoseschlüssel ICD-10 so nicht aufgeführt ist und somit keine eigenständige Diagnose darstellt. Ich teile uneingeschränkt die Auffassung von Jochen Raue, »ob nicht die Schwierigkeiten bei der Integration der Aggression in der Entwicklung des Kindes als eine eigene diagnostische Kategorie angesehen werden sollte: im Sinne einer Aggressions(entwicklungs)störung...« (Raue, 2008, S. 12)
    Bevor wir zu den psychodynamischen Hintergründen einer nicht oder noch nicht richtig geglückten Integration von Aggression bei Kindern und Jugendlichen kommen, möchte ich ein Fallbeispiel bringen.

Sven: »Aber ich bin der Stärkste und sicher kein Baby«
    Der neunjährige Sven ist ein »geschicktes« Kind im doppelten Sinn des Wortes: Die Eltern wurden von Svens aufmerksamem Lehrer »gezwungen«, eine Spieltherapie für ihren Sohn zu beginnen. Und Sven selber ist ein sehr geschickter, will heißen hellwacher und wendiger Junge, der mir auf Anhieb gefällt, doch mir schon in der zweiten Stunde beziehungsweise »Runde« (wie im Boxring), einer Einzelstunde mit ihm allein, große Probleme bereitet. Er gibt mir bei der ersten Begegnung forsch und mit aufmerksamem Blick die Hand, meint, »Du bist also die, zu der ich muss«, und macht sich auf dem Sofa breit. Die Eltern, beide beruflich selbstständig, nehmen rechts und links von ihm auf einem Stuhl Platz. Er übernimmt gleich das Wort:
    »Also, was mach ich jetzt hier? Mein Lehrer hat gesagt, ich muss zu dir kommen...« Sein Vater ergänzt spontan: »Finden wir nicht nötig, Sie sehen es ja, Sven ist ganz gut drauf. Aber sein Lehrer hat ja ein Wörtchen mitzureden, wenn es um den Übertritt geht, und Sven schlägert schon ein bisschen viel, hab ich auch gemacht früher, ist ja besser, einer wehrt sich, als umgekehrt, oder was meinen Sie als Expertin?« Er grinst bei der letzten Bemerkung und ich spüre, dass seine Frage rein rhetorisch gemeint ist.
    Zu meiner Überraschung greift Sven die letzte Bemerkung seines Vaters auf:
    »Was ist eine Expertin?«
    »Die sucht man auf, wenn man nicht mehr weiterweiß, Sven, doch das scheint ja bei euch nicht der Fall zu sein. Ihr scheint euch einig zu sein, dass du ein prima Kerl und hier am falschen Ort bist...« Schweigen.
    Jetzt meldet sich die Mutter das erste Mal zu Wort und sagt, zuerst zu ihrem Mann gewandt: »Er schlägt schon
schnell zu, das hast du doch auch schon gesagt. Und die blöden Telefonate deswegen. Vor einer Woche hat die Mutter eines Jungen angerufen, Sven hat ihrem Sohn eine Schramme zugefügt, nichts Schlimmes, aber es gibt ja Mütter, die rufen wegen nichts an.«
    »Ja, die gibt es, da haben Sie recht, die tun manchmal zu viel des Guten, um ihr Kind zu schützen.«
    »Schön,

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