Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
dass Sie das auch so sehen.« Es herrscht wieder eine aufgeräumte Stimmung.
Als ich Sven frage, was er denn am liebsten in der Schule mache, meint er:
»Eigentlich gar nichts... aber ich bin der Stärkste in der Klasse, gell, Papa (sein Vater bestätigt ihn mit einem gelassenen Nicken), und die anderen Jungs, die wollen alle wie ich sein, die machen fast immer, was ich will, nur Tobias und Alexander, die sind blöd, die sind dann neidisch und gemein, petzen beim Lehrer und der schimpft dann mit mir... so ein Arschloch!« Der Vater ermahnt ihn: »Sven, das sagt man nicht!« - »Du hast doch selber gesagt, er ist ein Arschloch.« Betretenes Schweigen.
Ich teile den Eltern meinen Eindruck mit, dass ich bei keinem von ihnen einen Leidensdruck spüren könne und die Notwendigkeit für eine Therapie nicht so richtig erkennen würde. Sven entfährt spontan ein »Hab ich’s doch gesagt - brauch ich nicht.« Doch die Mutter dringt plötzlich darauf, es doch »ein paar Stunden auszuprobieren, schadet ja nichts«. Auch der Vater stimmt ihr, zu meiner Überraschung, zu und handelt sich damit ein »Du bist gemein« von seinem Sohn ein.
Dann kommt Sven allein zur Einzelstunde. Er betritt gut gelaunt den Therapieraum, wirft seiner Mutter noch ein lässiges »Tschüss« zu und beginnt sich umzusehen. Sein Blick fällt auf das Puppenhaus: »Igitt, was ist denn das! Hast du Babys hier?« Ohne eine Antwort abzuwarten wandert sein
Blick weiter zum Sandkasten. »Soll ich etwa im Sandkasten spielen, is ja bekloppt...« Ich verweise ihn auf die Tier- und Menschenfiguren für den Sandkasten. Er guckt sie flüchtig an, nimmt ein paar Figuren in die Hand, lässt sie wie angeekelt fallen. Dann dreht er sich um, baut sich vor mir auf und sagt: »Mit dem Zeug hier spiele ich nicht, Spielzeugpistolen ohne Munition, bin doch nicht im Kindergarten, ich bring meine Spielsachen das nächste Mal mit. Ne, besser, ich komm nicht mehr, gefällt mir nicht hier.«
Seine gute Laune ist gänzlich verflogen. Von dem coolen, selbstbewussten Jungen aus der ersten Begegnung ist nichts mehr zu sehen. Er wird immer hektischer, entdeckt zwei Paar Boxhandschuhe, presst ein »Los, wir boxen!« zwischen den Lippen hervor, greift automatisch nach dem größeren Paar, wirft mir das kleinere hin. Ich zögere, weil mir auffällt, dass ich noch nie mit einem Jungen in der allerersten Einzelstunde geboxt habe, will ihm die Boxregeln erklären. Er hört nicht zu, boxt schon wild auf mich ein. Ich halte seine Hände fest. Er beschimpft mich mit wüsten Ausdrücken. Dann: »Ich ruf meinen Papa an, der holt mich sofort ab, blöde Kuh.« Er rennt zum Telefon. Ich lege meine Hand auf den Apparat, hole tief Luft und versuche ihm zu sagen, dass er jetzt große Angst hat, weil sein Papa nicht da ist, ich ihm fremd bin und hier nicht alles nach seinen Regeln läuft und er es doch gewohnt ist, überall der Stärkste zu sein. Er ist total erschöpft, hechelt wie ein gejagtes, in schreckliche Enge getriebenes Tier - und ich auch. Er lässt sich auf den Stuhl plumpsen. Eine trotzige Kleinkinderstimme ist zu vernehmen: »Aber ich bin der Stärkste.« - »Ja, du bist sehr stark, das habe ich eben gemerkt, ich mag starke Kinder, aber ich glaube auch manchmal zu spüren, dass es sehr anstrengend für starke Kinder wie dich ist, immer so stark sein zu müssen.« Er findet sofort wieder zu seiner gewohnt selbstbewussten Stimme und meint lässig: »Für mich nicht.«
Als seine Mutter ihn kurz darauf abholt und mit etwas unsicherer Stimme und fragendem Blick auf mich von ihm wissen möchte, wie es denn gewesen sei, meint Sven locker: »Ziemlich langweilig, gibt halt viel Babyzeug hier... aber geht schon. Das nächste Mal komm ich aber nicht mehr.« Es kam noch oft vor, dass er nicht mehr kommen wollte - seine Eltern haben jedoch den Mut gefunden, ihn weiterhin etwas zu enttäuschen und in zunehmend sensibler Art und dosierten Portionen ihm Kränkungen zuzumuten. Damit haben sie den Hauptbeitrag zu einer besseren Integration seiner Aggressionen geleistet.
Einige Gedanken zur Aggressionsentwicklung
Bei allen Kindern mit Aggressionskonflikten kann regelmäßig beobachtet werden, dass sie mit Familienstrukturen und Geschehnissen konfrontiert worden sind, die ihnen eine angemessene Integration von Aggressionen erschwert haben. Jochen Raue vertritt die These, dass »der Stellenwert der Aggression in der frühen Entwicklung (des Kindes) ein sehr unterschätztes Moment im Denken vieler
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