Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
mitgehe, und dann ist er mir böse, dass ich dabei bin, ist gereizt und schlecht gelaunt, herrscht mich an vor anderen und spielt aber nicht mit dem anderen Kind.«
Die Eltern spüren, dass ihr einnässendes Kind gewisse Entwicklungsschritte verweigert, sich kleiner macht, als es vom Alter her ist. Und das macht sie unruhig und gereizt, was das Kind wiederum als eigenes Ungenügen und Versagen erlebt. All diese Vorgänge finden oft keine Sprache, sondern sind nur atmosphärisch zu greifen. Häufig erleben wir bei den Eltern entweder eine rigide Sauberkeitshaltung oder eine nachlässige, verwöhnende Einstellung zum Trockenwerden im Sinne von: »Er/sie ist ja noch klein... das wird schon noch.«
Der Druck zum Trockenwerden nimmt bei den Eltern oft erst mit dem nahenden Termin der Einschulung zu. Was, wenn andere Kinder merken, dass mein Sohn, meine Tochter noch eine Windel trägt in der Nacht? Plötzlich wird die Scham akut, sowohl bei den Eltern wie beim einnässenden Kind. Das Einnässen beginnt dann den sozialen Spielraum erstmals empfindlich einzuschränken: Die Kinder weigern
sich, bei einem anderen Kind zu übernachten, Schullandheimaufenthalte werden gefürchtet als möglicher Ort der Bloßstellung und Beschämung.
Der einnässende Junge
Er ist oft Mamas Nesthäkchen. Mir sind in der Praxis vor allem zwei Charaktere einnässender Jungen aufgefallen: Entweder zeigen sie weiche, angepasste und fast mädchenhafte Verhaltenszüge, schmusen zu Hause gern und häufig mit der Mutter und weichen dem Vater aus. Oder sie zeigen sich forsch, schnell beleidigt, aufbrausend, weisen jede Zärtlichkeitsbezeugung der Mutter in der Öffentlichkeit ab und suchen sich in ihrer Klasse den Jungen als (heimlichen) Freund aus, der unangefochten der Chef, ein Raufbold und »ganz Cooler« ist. So unterschiedlich dabei ihr Verhalten ist, so sehr leiden sie unter denselben Ängsten: nämlich kein »richtiger« Junge zu sein.
Andreas, auf den wir unten noch näher zu sprechen kommen, erzählt mir, wie einige Jungen aus seiner Klasse ein Wettpinkeln im Schullandheim veranstaltet haben. Er flüstert dabei, als ob es sich um ein großes Geheimnis handeln würde: »Die Lehrerin hat’s nicht gesehen.« Auf meine Frage, was er gemacht habe, antwortet er leise: »Ich hab zugeschaut.« In diesem ödipal rivalisierenden Spiel um den weitesten Strahl war er nur passiver Zuschauer. Das lustvolle Spiel hatte mit diesem achtjährigen Jungen nichts zu tun. Ihm standen nur der Schmerz und Neid ins Gesicht geschrieben. Außer der Lehrerin durfte kein Mitschüler wissen, dass er in der Nacht eine Windel trug im Schullandheim. Wir können uns vorstellen, was für eine Pein es für ihn gewesen sein muss, diesen Umstand erfolgreich verbergen zu müssen.
Typisch für einnässende Jungen ist auch ihre Unkenntnis in Sachen Sexualität. Wenn sie nicht einen weiten Bogen
um dieses Thema machen, fällt auf, dass einnässende Schuljungen nicht genau wissen, wie Kinder entstehen, oder dem Thema einfach mit Angst begegnen. Es ist oft auch in der Familie solcher Kinder generell kein Thema. Einnässende Jungen haben darin oft den Stellenwert eines heimlichen Partnerersatzes für die Mütter und reagieren auf diese Rollenzuweisung mit Kastrationsangst. Sie weigern sich unbewusst, groß zu werden, sich von der Mutter abzugrenzen und dem Vater zu begegnen. Doch der Preis ist hoch: Er bedeutet den Verzicht auf Loslösung von der Mutter, sexueller Autonomie und Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Der Vater steht dem einnässenden Jungen als starker Dritter oft nicht zur Verfügung. Er lässt ihn im gewissen Sinne im »Mutterreich« stehen und wertet ihn entweder narzisstisch ab (»Hau mal drauf in der Schule, bist doch keine Memme!«) oder neigt zu verbalen oder körperlichen Züchtigungen. Auf jeden Fall ist der Weg zum Vater oft so weit für den einnässenden Jungen, wie der Weg zur Mutter zu nah ist.
Oft finden wir auch recht leistungsbetonte Eltern vor, die ihrem Sohn ein perfektes Funktionieren und progressives Verhalten tagsüber abverlangen, ohne ihn mit der nötigen Selbstsicherheit und Ich-Stärke ausgestattet zu haben, wie sie nur durch ein zunehmendes Vertrauen in seine Selbstständigkeit gelingen können. Er »bringt« es zwar dann auch, doch wenn die Nacht und der Schlaf kommen, und damit auch die natürliche Regression, signalisiert er in seinem Symptom des Einnässens seine Überforderung.
Andreas: »Ich bin nicht der Prinz, ich
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