Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Zweitklasslehrerin, zu einer Spieltherapie für ihren Sohn. Der Lehrerin war schon recht bald aufgefallen, dass das Leseverhalten von Alex so wenig zu dem wortgewandten und - wie sie deutlich erkannte - intelligenten und im sozialen Kontakt eher aggressiven und »sehr egoistischen« Jungen passen wollte.
Alex selber, ein aufgeweckter und erzählfreudiger Junge, der mich mit seiner offensiven und humorvollen Kontaktaufnahme,
»ui, jetzt wird’s aber ernst, wenn ich zu Ihnen muss«, gleich zum Schmunzeln brachte, hatte überhaupt kein Problem mit seiner Legasthenie - nur mit dem angedrohten Sitzenbleiben. In der 20. Stunde vertraute er mir an, dass »es ganz praktisch ist mit der Legasthenie: Ich krieg das Diktat nochmals vorgelesen und Fehler kann ich auch machen, so viel ich will, jetzt lachen die (Mitschüler) auch nicht mehr blöd wie in der letzten Klasse, die wissen, sonst gibt es Ärger«.
Die Stunden davor laufen nach dem weitgehend gleichen Schema ab: Er will ununterbrochen kämpfen (boxen, mit Schaumstoffschlägern fechten) oder, wenn ich nicht mehr kann, Regelspiele machen, wobei er sich in keinster Weise an die Regeln zu halten verpflichtet sieht. »Regeln sind doof, was für Babys.« Diese Bemerkung kommt in einer so herablassenden Art, dass ich mich hinreißen lasse zu sagen: »Babys kennen noch gar keine Regeln!« Seine Miene verdüstert sich sogleich und er schmeißt meine Figur aus dem Spiel mit den Worten: »Die ist zu weit vorn.« Ich spüre schlagartig, dass ich ihn in seiner Größenfantasie, dass er sich nicht an Regeln zu halten hat, weil er doch so mächtig ist, ziemlich gekränkt habe. Ich war zu weit vorn. Er zeigt mir, dass er noch keinen Zugang findet zu sozial verbindlichen Spiel- und Beziehungsregeln.
Sein anfänglicher Charme ist in der Zwischenzeit gänzlich verflogen und einer eher vorsichtig-misstrauischen Haltung mir gegenüber gewichen. Mir fällt wiederholt sein Begrüßungssatz ein: »Jetzt wird’s ernst.« Auch ich schmunzle inzwischen nicht mehr und spüre, wie hinter seinem wortreichen Erzählen über Urlaub (»Ich schwimm ja besser als ein Hai«), Streit mit anderen Jungen (»Ich bin jedem überlegen«), Heldentaten (»Ich bin der Schnellste im Rennen... hab alle stehen lassen«) ein Vermeiden von Kontakt und Beziehung steckt. Das Einzige, was er mir deutlich vermitteln kann, ist sein Wunsch, dass ich ihn genauso großartig erlebe
wie er selbst. Als er mich beim Boxen, entgegen den Spielregeln, schmerzhaft am Bauch trifft, meint er völlig ungerührt: »Ich wusste es ja, ich hab wahnsinnig viel Kraft.« - »Ja, das stimmt, du hast wirklich viel Kraft, dein Schlag hat aber ziemlich wehgetan. Ich frag mich jetzt gerade, ob du selber auch spüren darfst, wenn dir was wehtut...« Er schaut mich überrascht an, fällt aus der Fassung. »Warum sollte mir was wehtun?« - »Du hast doch erzählt, wie die anderen in der letzten Klasse gelacht haben, wenn du nicht lesen konntest.... so was tut doch weh, oder, wenn andere einen auslachen?« Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass er mich wahrnimmt, mich hört.
In die nächste Stunde kommt er mit einem Pflaster an der Stirn. Er habe einen Streit gehabt, ein anderer Junge (»Nein, kein Freund, ich hab keine Freunde«) habe ihn umgestoßen auf dem Schulhof, er sei mit der Stirn »knallhart« aufgeschlagen, sie habe geblutet. »Du Armer, tut’s noch weh?« - »Jetzt nicht mehr, der Felix ist ganz schön erschrocken, hat sich bei mir dann entschuldigt, weil Frau W. (die Lehrerin) es wollte.« - »Ja, dem hat’s richtig leidgetan, dass er dir Schmerzen zugefügt hat.« Ein paar Stunden später will er wieder boxen. Er erwischt mich an der Stirn, ich schreie spontan: »Aua, das hat wehgetan...« Bevor ich was sagen kann, meint er verlegen: »Das war gegen die Regel... das ist ein Punkt für dich, jetzt steht’s fünf zu fünf.« - »Weißt du, dass du dich das erste Mal an eine Regel hältst und nicht mehr so tust, als ob Regeln nichts mit dir zu tun haben? So wie du ja bisher geglaubt hast, dass alle anderen Kinder sich dran halten müssen, lesen zu lernen, nur du nicht.« Ein Dreivierteljahr später und wenige Monate vor Ende der Therapie liest Alex, wie mir seine Eltern voller Freude berichten, »wie die anderen in seiner Klasse«.
Wie sich im Laufe der Therapie herausstellte, hatte seine Mutter nach der Geburt von Alex eine Kindbettdepression gehabt, die über mehrere Monate anhielt. Sie hatte vor Alex
eine Totgeburt erlitten (was
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