Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Anerkennung zu finden und in mir Begeisterung hervorzurufen. Wie sie das erste Mal in der Stunde sichtbar einnässt, behauptet sie wild entschlossen, es sei nichts passiert. In der Folgestunde ist sie krank. In der übernächsten Stunde erscheint sie verspätet. »Sie wollte nicht kommen, ich versteh das nicht, sie kommt doch so gern«, sagt die Mutter irritiert. Ich spreche Sandra darauf an, ob sie glaube, dass ich jetzt von ihr enttäuscht sei, weil sie das letzte Mal gezeigt habe, dass sie nicht nur groß und stark sei. Sie schaut mich schüchtern an und sagt kaum hörbar: »Ist das schlimm? Meinen Brüdern passiert das nie, die lachen mich nur aus, obwohl die Mama gesagt hat, sie dürfen nicht lachen.« In einer späteren Stunde sagt sie, dass sie lieber »so wäre wie meine Brüder«. Die seien faul und würden nicht geschimpft werden vom Papa »wegen dem da...« Und er sage immer, »mein tolles Mädchen muss doch nicht mehr in die Hose machen.« - »Doch, vielleicht musst du gerade deswegen in die Hose machen, weil du nicht immer nur Papas tolles Mädchen sein willst und Mamas tüchtige Tochter, sondern einfach nur ein Mädchen, das beide Eltern so lieb haben, wie es ist.«
Einige Stunden später will sie nur noch in der Hängematte »faulenzen«. Das Einnässen tagsüber hört auf. Und nach vielen Gesprächen mit den Eltern kann die Mutter erkennen, dass sie ihre Tochter mit ihren Leistungsvorgaben und Sandras abhängigem Blick von mütterlicher Bestätigung
(die sie auch bei der Lehrerin und ihren Freundinnen suchte) nicht wirklich hat autonom werden lassen. Und der Vater entdeckt, dass er seine Enttäuschung über das Scheitern seiner Ehe in einer Ersatzpartnerschaft mit der »kleinen tollen Tochter« ausagiert und sie auf seine Art überfordert hat.
Ein halbes Jahr später hört auch das nächtliche Einnässen auf.
Aggression
Dass aggressive und körperlich ausgetragene Konflikte unter Kindern und Jugendlichen zunehmen, ist eine weitverbreitete Klage. Häufig wird der medialen Überflutung, also dem hohen Fernsehkonsum oder den aggressiven Computerspielen die Schuld daran gegeben. Ich bin mir nicht sicher, ob die heutigen Kinder aggressiver sind, als wir es früher waren, oder ob sich nicht der Umgang von uns Erwachsenen mit Grenzen und Aggression nachteilig verändert hat: also wir selber weniger belastbar geworden sind und nachlässiger im Umgang mit Grenzsetzungen. Sicherlich stellt die ständig neu und konsequent ausgehandelte Begrenzung des Fernsehkonsums und der am Computer verbrachten Freizeit eine große erzieherische Herausforderung dar. Es geht aber nicht anders, liebe Eltern! Da ist zweifelsohne elterliches Stehvermögen gefragt. Doch Aushandeln und Begrenzen sind auch wesentliche Lernquellen für den kindlichen Umgang mit Frustration.
Ich beobachte immer wieder in der Praxis, wie ungern Eltern ihren Kindern so etwas Natürliches wie Frustrationen zumuten, wie schnell sich schlechtes Gewissen dort breitmacht, wo früher einfach ein Nein kam. »Aber das Computerspielen ist meinem Sohn doch so wichtig, wenn er schlecht gelaunt aus der Schule kommt. Das kann ich ihm doch nicht
auch noch nehmen!«, so ein Vater zu den drei bis vier Stunden, die sein Sohn täglich vor dem Computer verbringt. Es geht nicht darum, Fernsehen oder Computerspiele zu dämonisieren. Das sind Errungenschaften unserer Zeit und die liebsten Freizeitbeschäftigungen unserer Kinder. Es geht aber um einen kontrollierten Umgang damit und darum, dass Eltern eine gesunde Aggression zeigen, wenn Begrenzungen notwendig sind - sie also den Mut zum ruhigen, aber entschiedenen Nein finden und dem Kind eine Enttäuschung zumuten.
Kinder oder Jugendliche, die wegen aggressiven Verhaltens in die psychotherapeutische Praxis kommen, werden oft von Lehrern dazu aufgefordert. Das heißt, den Eltern wird eine Therapie für ihr Kind nahegelegt. In anderen Fällen kommen die Eltern mit dem aggressiven Verhalten des Kindes ihnen gegenüber nicht mehr zurecht und suchen von sich aus einen Therapieplatz für ihr Kind - was eine wesentlich günstigere Grundlage für eine erfolgreiche Therapie ist. »Geschickte« Kinder haben oft keinen Leidensdruck oder nur insofern, als dass sie den Kummer ihrer Eltern spüren, »weil es wieder Stress zu Hause gibt, weil ich einen Jungen verprügelt habe«, so der neunjährige Sven. Wie oft höre ich von solchen Eltern, dass »wir selber überhaupt kein Problem mit unserem Jungen haben, zu Hause ist er ganz
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