Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Idee oder keine Lust?« - »Keine Lust.« Ich atme auf, weil es das erste Mal ist, dass er seine Höflichkeit, die ich als Maske empfinde, ablegen kann. Ob wir rausgehen könnten, er würde gerne mit mir Fußball spielen. »Hier ist es so furchtbar eng, ich meine (er stottert leicht), da ist kein Platz... für den Ball.« - »Nur für den Ball nicht oder für bestimmte Gefühle von...« Ich hab den Satz noch nicht ausgesprochen, da holt er mit dem Fuß aus und zertrümmert mit dem Ball eine kleine Tonfigur, die auf dem Fensterbrett steht. Es ist keine eines anderen Kindes, die sind alle heil geblieben, sondern eine, die ich gemacht hatte! Alexander schaut so erschrocken, steht wie gelähmt da, die Augen einen Moment voller Panik, dass meine Wut sofort verschwindet und ich merke, dass ich ihn beruhigen muss. »Das war ein Volltreffer, du wolltest mich treffen und hast es geschafft. Das war sehr mutig von dir, du hättest hier ja auch weiterhin den braven, lieben Alexander spielen können und wir wären uns nicht begegnet.«
Im weiteren Therapieverlauf kommen noch viele »Treffer«, doch es geht nichts mehr kaputt dabei. In den Stunden inszeniert er nun wiederholt seine große Wut auf die ihn vereinnahmende Mutter und den ihn so lange Zeit enttäuschenden Vater, der es nicht geschafft hatte, ihn aus der bedrohlichen und klein haltenden Beziehung zu seiner Mutter herauszuholen. Er zeigt seine Sehnsucht nach einem Vater,
der mit ihm auf den Fußballplatz geht oder sonst wohin, Hauptsache, er beschäftigt sich mit ihm. Alexander konnte auch mit der Zeit verstehen, dass sein von ihm als so schwach erlebter Vater selber auf kein väterliches Vorbild zurückgreifen konnte und ihn deswegen ganz gern der Mutter überlassen hatte. Auch hier haben beide Eltern eigene Defizite reflektieren und teilweise beheben können.
Depression
Die Depression gehört zu den narzisstischen Störungen. Gemeint ist damit eine Störung aufgrund eines unsicheren Selbstwertgefühls. Vielleicht taucht jetzt bei einigen Lesern die Frage auf, was die Diagnose Depression bei Kindern und Jugendlichen zu suchen hat?
Leider gilt für den Umgang mit Depression, dass sie bei Kindern und Jugendlichen oft übersehen wurde und noch wird. Hinter Ängsten, Hyperaktivität, aber auch Lernstörungen und Aggression verstecken sich oft depressive Stimmungsbilder. Heinemann/Hopf (2008) nennen diese Zahlen: »1 % der Kindergartenkinder, 2 % der Grundschulkinder und 6-8 % der Jugendlichen.« Sie betonen, dass insbesondere bei den Mädchen in der Adoleszenz ein starker Anstieg depressiver Störungen zu beobachten ist. Es muss uns zu denken geben, dass 70 bis 80 Prozent der depressiven Kinder und Jugendlichen (Seiffge-Krenke 2007, S. 193) auch aktuell noch keine Behandlung erfahren.
Ich selber möchte aus meinen Beobachtungen in meiner Praxis zumindest zu bedenken geben, ob bei vielen jugendlichen Jungen mit Lernstörungen nicht auch verdeckte depressive Züge eine Rolle spielen. Nicht selten geben mir die Eltern und die Jugendlichen selber, die wegen Lernstörungen,
diffusen Ängsten etc. meine Praxis aufsuchen, ein genaues Stimmungsbild einer versteckten Depression wieder ohne es zu wissen. Sie sprechen von Antriebshemmung, gedrückter Grundstimmung, geringen sozialen Kontakten und Rückzug, psychosomatischen Beschwerden wie täglichem Bauchweh, Einschlafstörungen, Appetitverlust, Müdigkeit, häufiger Übelkeit, mangelnder Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, starken Stimmungsschwankungen, Minderwertigkeitsgefühlen, Versagensängsten, Schuldgefühlen (Anna: »Ich bin schuld, dass meine Mama so wenig Freude hat«), Autoaggression und Suizidfantasien. Allerdings ist es wichtig, gerade in der schwierigen Zeit der Adoleszenz als kreative Selbstfindungsphase, nicht hinter jedem sozialen Rückzug und massiven Stimmungsschwankungen (himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt) depressive Grundstimmungen zu wittern. Oft dienen diese Verhaltensweisen der Abgrenzung von den elterlichen Bezugspersonen und sind Ausdruck einer ernst zu nehmenden Selbstfindung, die einfach Zeit braucht und in der Maske eines sperrigen und elterliche Vorschläge verwerfenden Verhaltens daherkommt. Doch wenn mehrere der oben genannten Symptome über längere Zeit vorherrschend sind, ist an eine mögliche Depression zu denken - auch wenn es Erwachsenen und gerade Eltern schwerfällt, beim Begriff der Depression an Kinder und Jugendliche zu denken. Wo wir uns nicht gerne hindenken, können wir
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