Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
die Mutter. Er weicht ihr nicht mehr von der Seite. Die Operation mit den damit verbundenen Schmerzen müssen ihm als bedrohlicher Angriff auf sein Leben erschienen sein.
Ein so kleines Kind hat noch wenig Möglichkeiten, einen körperlich schmerzhaften Eingriff zu verarbeiten. Kinder führen in den ersten Lebensjahren noch ganz körperliche Existenzen, gedankliche Reflexion und Verarbeitung sind ihnen einfach noch nicht möglich. Jeder körperliche Angriff ist in diesem frühen Alter daher auch ein seelischer Angriff. Ein Kind erlebt bei einer Operation nur eine von fremden Menschen an ihm ausgeübte Gewalt. Diese frühen Krankenhausaufenthalte üben oft eine traumatische Wirkung auf die Kinderseele aus. Deswegen ist es unerlässlich, dass die Mutter oder der Vater sich in ständiger Nähe aufhalten. Rooming-in, also die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind im Krankenhauszimmer, wird zwar meistens angeboten, doch ist eine Rundumbegleitung des Kindes oft aus persönlichen Gründen nicht möglich, weil zu Hause noch andere
Kinder betreut werden müssen. Es wäre sehr wünschenswert, dass Eltern dann nicht mit diesem Problem alleingelassen und beruhigt werden (»Ihr Kind ist hier gut aufgehoben«), wie das bei Christoph der Fall war, sondern eine häusliche Betreuung für die Familie organisiert werden kann.
Christoph hat in der Therapie nach einem halben Jahr das Sprechen angefangen. Und erst da wurde sichtbar, wie viel Trauriges er im Stummsein abgewehrt hat. Er hat die Mutter als Sprachrohr zur Welt draußen organisiert, einer Welt, die für ihn überhaupt keinen Aufforderungscharakter besaß, sondern nur gefährlich und unberechenbar war. Dass er dadurch in eine immer größere Abhängigkeit zur Mutter geraten ist, ist fast zwangsläufig die Folge. Sie wurde zur Übersetzerin seiner Wünsche, falls er überhaupt welche hatte, sie interpretierte den anderen Menschen draußen sein Schweigen. Pech für ihn (und Glück zugleich), dass die Mama nicht auch noch in den Kindergarten mitgehen durfte. Zu Hause genoss er fast grenzenlose Freiheiten, weil seine Mutter glaubte, ihn für die Zeit ihrer Abwesenheit im Kindergarten entschädigen zu müssen. Sie wollte ihm etwas Gutes tun für vermeintliche eigene Versäumnisse und bewirkte genau das Gegenteil. Er traute sich in den zwei Jahren seines Schweigens draußen immer weniger zu, erzählte mir, dass ihn »niemand im Kindergarten mag... die wissen gar nicht, wie ich heiße, die rufen immer nur andere Namen, vor allem Jenny und Florian, meinen Namen sagen sie nie...« Es ist nicht einfach, einem Fünfjährigen glaubhaft zu vermitteln, dass andere Kinder nur ein Spiegel seines Verhaltens sind. »Weißt du, die trauen sich nicht mehr, die glauben ganz fest, du willst nicht mit ihnen sprechen. Die wissen gar nicht, wie traurig es dich macht, dass sie deinen Namen nie rufen.«
Es ging hier um einen Abnabelungsprozess von der Mutter, der durchaus nicht nur im symbolischen Sinne zu verstehen ist. Es gab ja lange Zeit gar keine Symbole, etwa
eine symbolische Ersatzmutter in Form eines Kuscheltieres, sondern nur die körperlich anwesende Mutter - oder nichts. Und: Er hatte sich daran gewöhnt, dass seine Bedürfnisse ihm von den Augen abgelesen werden. Ein Vorgang, der übrigens bei vielen depressiven Kindern und Jugendlichen im Umgang mit anderen Menschen zu beobachten ist.
Christoph hat mit der Zeit gelernt, dass es richtig Spaß machen kann, selber zu sagen, was er braucht und was nicht. In eine Stunde kommt er ganz aufgeregt und erzählt mir unter den lachenden Augen der Mutter noch beim Reinkommen, dass »Florian gerufen hat, Christoph soll das jüngste Geißlein spielen!« Ich freue mich mit ihm und in der Stunde vertraut er mir an, dass er eigentlich am liebsten den Wolf gespielt hätte. »Aber den hat der Florian gespielt.« Ja, alles geht halt nicht auf einmal.
Eltern-Paare
Am Anfang dieses Buches war die Rede davon, dass manchmal am Ende einer Therapie mehr Personen im Raum sitzen als zu Beginn: Zu Mutter, Vater und den Kindern hat sich noch ein Paar gesellt. Das Paar hat in die Familie zurückgefunden. Wenn das passiert, ist vieles gut gelaufen. Es passiert natürlich nicht immer. Wir wollen uns hier ja nicht mit idealen Familienlandschaften vergnügen, sondern mit möglichen Familienbildern konfrontieren. Familien ist mehr möglich, als sie zu Beginn einer Therapie, die in einer kritischen Familienphase aufgenommen wird, für möglich halten. Familie und
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