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Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern

Titel: Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kösel
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»Hab schon solche Gedanken, aber tun, nein, mich umbringen, das will ich nicht.« Sie fügt leise hinzu: »Deswegen komm ich ja hierher …« Sie zählt auf, was sie alles schon gemacht hat. » Habe - im Moment tue ich überhaupt nichts mehr, liege am liebsten im Bett oder bin einfach im Zimmer... meine Mutter wird fast verrückt.« Es ist viel, was sie aufzählt. In jeder Hinsicht, ob es um soziale Aktivitäten, Hobbys oder schulische Belange geht. Anna ist eine begabte, sensible junge Frau, der aber, so ihr Empfinden, »alles abhandenkommt«. Alles rutsche weg. Über ihr Abitur habe sie sich genau einen Abend lang gefreut, dann »war auch das weg«. Ihre Mutter habe sich so gefreut und gesagt, dass ihr jetzt alle Wege offenstünden. Welcher Weg?, habe sie sich im Stillen gefragt. Auch ihr Freund sei stolz auf sie - und ein bisschen neidisch (das letzte Wort entlockt ihr trotz ihrer Niedergeschlagenheit ein Schmunzeln).
    In unserer Zusammenarbeit beeindruckt mich lange Zeit ihre engagierte Mitarbeit. Sie bringt Einfälle, erzählt Träume, reflektiert jede Stunde und das darin Besprochene. Sie ist, oberflächlich betrachtet, die »perfekte« Patientin. Gleichzeitig wird spürbar, wie sie glaubt, mich zufriedenstellen zu müssen. Sie arbeitet für zwei, gönnt sich keine banale, langweilige, uninspirierte Stunde. Die Depression ist plötzlich wie verflogen. »Sie legen hier ein Tempo an den Tag, arbeiten fast für zwei, setzen alle Anregungen gleich um. Was sagen Sie dazu, wenn ich Sie als perfekt bezeichne?« Sie verstummt, fühlt sich gekränkt. In den darauffolgenden Stunden bricht die Erkenntnis, dass sie »immer schon so war«, schon in der Grundschule, wie eine Lawine über ihr zusammen. Plötzlich fällt ihr ein, in wie vielen Zusammenhängen
das Wort Perfektion auf sie schon Anwendung gefunden habe: perfekte Tochter, perfekte Schülerin, perfekte Freundin. Und, meint sie selbstkritisch, »wie viel ich selber dafür getan habe, dass das so ist, sehe ich erst jetzt«. Ihr tiefes Misstrauen gegenüber sich und der Welt, ob sie auch »ohne all diese Anstrengungen« liebenswert ist, wirft sie vorübergehend in eine erneute depressive Krise. Sie hält unbeirrt daran fest, dass sie nur mit ihrer beträchtlichen Leistungsbereitschaft und ihrer Aufopferung für andere - Freundinnen, Mutter und Freund profitieren von ihrer »Allzeit-bereit-Haltung« - sich einen Platz auf dieser Welt erobern könne und dass ich doch nur »so professionell« an ihr interessiert sein könne. Ich wolle sie ja auch nur wieder »fit spritzen für den täglichen Leistungsschaulauf auf dieser Erde«. Ich sei wie alle anderen, ich wolle sie »wie meine Mutter zum Durchstarten bringen. Mit so einem tollen Abi, das soll meine Mama vergessen machen, dass sie selber nicht durchgestartet ist und Großes vollbracht hat.« Und ihr Freund habe auch kein Verständnis, der begreife nicht, dass Sex ihr im Moment überhaupt nichts bedeute.
    Sie schimpft nur noch, wird in der Therapie und anderswo vorübergehend aggressiv und anderen gegenüber auch bisweilen ungerecht - doch sie schlüpft aus ihrer depressiven Schutzschale zunehmend heraus und gewinnt die Sicherheit, dass sie auch ohne ihre sie lange Zeit stabilisierende Leistungsbereitschaft äußerst liebenswert ist. Wo vorher eine Sackgasse ihr die Sicht auf sich selber versperrt hatte, nämlich Leistung = Platz in dieser Welt, tun sich nun echte und selbst gewählte Wege in ihr Erwachsenenleben auf.
    Die Arbeit mit dieser jungen Frau hat mich beruflich und menschlich sehr bereichert, weil Anna so hartnäckig um einen authentischen Weg gerungen hat. Ein Anna-Weg sollte es sein, nichts anderes.

Christoph oder: Ein Kind, das nie beim Namen gerufen wird
    Der fünfjährige Christoph kommt auf Aufforderung des Kindergartens in meine Praxis. Ich habe ihm zunächst die Diagnose elektiver Mutismus gegeben, weil sein Schweigen das auffälligste Symptom ist. Doch im Verlauf der Therapie wird ziemlich bald klar, dass er depressiv ist. Er nimmt mit niemandem sprachlich Kontakt auf, es sei denn, der andere gehört zu seiner Familie. Er hat in seinem zarten Alter bereits zwei Krankenhausaufenthalte hinter sich, einen davon mit einer schmerzhaften Operation verbunden. Reale Verlusterlebnisse, unter anderem den durch die Trennung der Eltern entstandenen Verlust des Vaters, sind bereits Bestandteil seiner noch schmalen Biografie. Nach seiner Operation mit eineinhalb Jahren beginnt er sein Anklammerungsverhalten an

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