Damon Knights Collection 10
Hestlers Schuhspitze.
„Ohne Testament gestorben“, leierte der Polizist und schrieb etwas in sein Notizbuch. Auf seinen Wink hin kam ein Räumkommando, hob den Toten auf einen Karren, deckte ihn zu und brachte ihn weg.
„Aufschließen!“ befahl der Polizist.
„Ohne Testament“, murrte einer. „Scheiße!“
„Jammerschade. Der Platz geht zurück an die Regierung. Keiner hat etwas davon. Verdammter Mist!“ Der Dicke, der diese Worte sprach, sah sich im Kreis um. „In so einem Falle sollten wir uns zusammentun und nach einem gerechten, vorher vereinbarten Plan vorgehen –“
„He!“ sagte der Halbwüchsige, dessen Mund immer noch offenstand. „Das ist Verschwörung!“
„Ich wollte damit nichts Unerlaubtes vorschlagen.“ Der Dicke verkrümelte sich an seinen Platz in der Rei he. In stillschweigender Übereinkunft löste sich die kleine Versammlung auf; mit raschen Schritten eilte jeder zu seiner Lücke. Hestler, der sehr wohl wußte, wie viele neidische Blicke ihm folgten, bestieg achselzuckend sein Mofa und tuckerte los. Er kam an den gleichen Gestalten vorbei wie immer: einige standen, andere saßen auf Falthockern unter ausgebleichten Sonnenschirmen, hier und da befand sich eine Wartehütte aus Nylon, hoch und viereckig, manchmal schäbig, aber gelegentlich auch protzig, wenn sie einem Begüterten gehörte. Er war ein Glückspilz; er hatte nie zu denen gezählt, die in der Reihe standen und schwitzten, der Sonne und den neugierigen Blicken der anderen ausgeliefert.
Es war ein strahlender Nachmittag. Die Sonne brannte auf die breite Betonpiste, über die sich die Schlange hinwegdehnte, bis zu einem weit entfernten Punkt in der Ebene dahinter. Vorne – nicht sehr weit vorne jetzt, und der Abstand verringerte sich mit jedem Tag – war die kahle weiße Wand, in der sich nur das eine Fenster befand: das Endziel der Schlange. Hestler wurde langsamer, als er sich der Hestlerschen Wartehütte näherte; er hatte ein trockenes Gefühl im Mund, als er sah, wie nahe er jetzt dem Kopf der Schlange war. Eins, zwei, drei, vier Plätze zurück! Himmel, das hieß, daß sie während der letzten zwölf Stunden sechs Leute abgefertigt hatten – eine einmalige Leistung! Und es bedeutete – Hestler hielt den Atem an – daß er das Fenster im Laufe dieser Schicht selbst erreichen könnte. Einen Moment lang spürte er den hysterischen Wunsch zu fliehen, mit Hintermann Eins zu tauschen und dann mit Hintermann Zwei, sich zurückzuziehen in sichere Entfernung, sich die Möglichkeit zum Nachdenken zu verschaffen, zur Vorbereitung …
„Hallo, Farn!“ Sein Vetter Galpert steckte den Kopf durch die Vorhänge der Nylon-Wartehütte. „Weißt du was? Ich bin einen Platz aufgerückt, während du fort warst!“
Hestler klappte das Rad zusammen und lehnte es gegen die verwitterte Wand. Er wartete, bis sich Galpert im Freien befand, dann zog er verstohlen die Vorhänge auf. In der Hütte roch es jedesmal schal und abgestanden, wenn ihn sein Vetter während der halbstündigen Erleichterungspause vertrat.
„Wir sind bald an der Spitze“, meinte Galpert aufgeregt und reichte ihm die Kassette mit den Papieren. „Ich habe so ein Gefühl –“ Er unterbrach sich, als ein Stück hinter ihnen plötzlich Streit aufflammte. Ein schmächtiger Mann mit fahlem Haar und vorquellenden blauen Augen versuchte sich zwischen Hintermann Drei und Hintermann Fünf in die Reihe zu zwängen.
„He, ist das nicht Hintermann Vier?“ fragte Hestler.
„Aber so begreift doch!“ zeterte der schmächtige Mann. „Ich mußte ganz plötzlich einem Drang der Natur nachgeben …“ Seine kurzsichtigen Augen hefteten sich auf Hintermann Fünf, einen bulligen Kerl mit groben Gesichtszügen, der ein grelles Hemd und eine Sonnenbrille trug. „Sie haben versprochen, auf meinen Platz aufzupassen …!“
„Na, und wozu hätten wir dann die Erleichterungspause, häh? Schwirren Sie ab!“
Die Menge schrie jetzt dem schmächtigen Mann entgegen:
„Schie-ber, Schie-ber, Schie-ber …“
Der schmächtige Mann wich zurück und hielt sich die Ohren zu. Das obszöne Geschrei wurde lauter, je mehr Wartende einstimmten.
„Aber es ist doch mein Platz“, wimmerte der Ausgestoßene. „Vater hat ihn mir hinterlassen, als er starb – ihr kennt ihn alle noch …“ Seine Stimme ging im Lärm unter.
„Geschieht ihm recht“, sagte Galpert. Die Schimpfworte brachten ihn sichtlich in Verlegenheit. „Ein Mann, der einfach weggeht und sein Erbe im Stich
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