Danach
hatte, kam es mir vor, als hätten sich meine Kräfte verzehnfacht. Wie ein Fohlen auf der Koppel stürmte ich den Rest des Abhangs hinunter. Meine Angst war noch nicht ganz verschwunden, aber ich sah jetzt ein großes Feld und jenseits davon ein heruntergekommenes altes Bauernhaus vor mir. Bestimmt war dort jemand, der mir helfen konnte.
Das Haus war leer und verschlossen, als ich dort ankam, aber in der Scheune daneben fand ich einen abgewetzten Mantel und ein Paar schwere Arbeitsstiefel. Obwohl mir beides viel zu groß war, schlüpfte ich hinein und ging dann zögernd die Straße entlang, die am Bauernhaus vorbeiführte. Es beunruhigte mich, dass hier keine schützenden Bäume mehr wuchsen, aber ich war fest entschlossen, so viel Abstand wie möglich zwischen Jacks Haus und mich zu bringen.
Irgendwann blieb ein Auto stehen, in dem ein junges Paar mit zwei kleinen Kindern saß. Sie schienen ein wenig Angst vor der dreckstarrenden, klapperdürren Frau zu haben, die da in dieser seltsamen Aufmachung vor ihnen stand und undeutlich artikulierend nach dem Weg zur nächsten Polizeiwache fragte, aber ich erkannte auch echte Anteilnahme und Sorge in ihren Gesichtern. Die Frau zögerte kurz und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, bevor sie mir anbot, mich zur Wache zu fahren. Ich fing an zu weinen und stammelte, dass das nicht gehe, dass ich zu viel Angst habe, um zu Fremden ins Auto zu steigen. Die beiden fragten mich, was mir zugestoßen sei, aber ich brachte nur immer wieder unter Schluchzen hervor, dass ich sehr, sehr lange in einem Keller eingesperrt gewesen war.
Als sie das hörten, stand ihnen das Entsetzen im Gesicht, und sie sagten, ich solle mich nicht vom Fleck rühren, sie würden die Polizei zu mir schicken. In meiner Verzweiflung glaubte ich, dass ich die Familie in die Flucht geschlagen hatte und es allein zur Wache schaffen musste, aber ich konnte mich einfach nicht mehr bewegen. Also zog ich den steifen, viel zu großen Mantel um mich und setzte mich an den Straßenrand.
Ich musste vor Schwäche in Ohnmacht gefallen sein, denn als ich wieder zu mir kam, beugten sich ein Polizist und eine Polizistin über mich und hoben mich auf den Rücksitz ihres Streifenwagens.
Auf dem Weg zur Wache saß die Polizistin neben mir, eine einfühlsame Frau, die sich voller Anteilnahme die Geschichte anhörte, die ich unzusammenhängend und flüsternd hervorstieß. Obwohl die Einzelteile meines Berichts bestimmt keinerlei Sinn ergaben, setzte sie geduldig die Puzzleteile zusammen und gab die Information, dass sich Tracy und Christine noch in dem Keller befanden, sofort per Funk an die Zentrale weiter. Stunden später sah ich im Krankenhaus, wie die beiden hereingebracht wurden. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits an Infusionsschläuche angeschlossen, die verschiedene Flüssigkeiten in meinen Körper pumpten, und konnte mich kaum bewegen. Während ich wieder wegdämmerte, traf mich die Erkenntnis, dass endlich alles vorbei war. Vorbei.
35
Tracy starrte immer noch auf ihre Knie, wie sie es während meines ganzen Berichts getan hatte. Christine hingegen hatte aufgehört zu weinen und saß jetzt aufrecht da, um besser zuhören zu können. Adele hatte sich Notizen gemacht und schrieb immer noch fieberhaft mit, als ich innehielt und mich umsah.
Im Raum herrschte angespanntes Schweigen. Ich wartete. Würde Tracy jetzt verstehen, warum ich nicht sofort gekommen war, um sie und Christine zu befreien? Würde sie mir glauben, dass ich Hilfe geschickt hatte, sobald ich konnte? Nachdem die Stille eine weitere volle Minute lang nur von Adeles Kugelschreiber unterbrochen wurde, der übers Papier kratzte, sah mir Tracy in die Augen und sagte ganz leise: »Adele, legen Sie den verdammten Stift weg.«
Adele hörte auf zu schreiben und blickte von ihren Notizen auf. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich und legte den Kugelschreiber beiseite.
Ich atmete erleichtert aus. Dass Tracy mich endlich ansah, war nicht viel, aber es war besser als nichts.
»Was ich erzählt habe, spielt jetzt allerdings auch keine Rolle mehr«, murmelte ich leise. »Wir werden hier drin sterben.«
»Nein«, widersprach Tracy, in deren Blick ein widerspenstiges Funkeln zurückgekehrt war. »Irgendwie kommen wir hier raus. Aber dazu müssen wir mehr wissen. Adele muss endlich die Karten auf den Tisch legen.«
Sie stand auf und drehte sich zu Adele um.
»Adele, Sie sind nicht zum ersten Mal hier, oder? Was auch immer Sie vor uns verheimlichen,
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