Dance of Shadows
Helen nach. Was meinte sie mit der Lyrischen Elite? Und dass jemand versuche, sie einzusperren? Vanessa hatte zunächst angenommen, Helen sei wohl verrückt geworden. Niemand von ihren Freunden hatte je von der Lyrischen Elite gehört, und sie konnte auch im Internet nichts dazu finden.
Doch sie hatte immer wieder die gleichen Bilder vor Augen: Helens drängenden Blick, als sie ihr geraten hatte, sie solle die Lyrische Elite suchen und niemandem sonst vertrauen. Als sie das gesagt hatte, war sie Vanessa überhaupt nicht verrückt vorgekommen, nur völlig verängstigt. Und ihr verblüfftes Gesicht, als Vanessa sie gefragt hatte, ob Justin ihr das alles erzählt habe. »Wer ist Justin?«, hatte sie gefragt, und das so klar, so aufrichtig erstaunt, dass es Vanessa kalt über den Rücken gelaufen war. Wenn nämlich Helen nicht wusste, wer Justin war, und er ihr das alles nicht erzählt hatte, warum hatte sie Vanessa dann so eindringlich warnen wollen? Und vor wem hatte sie so panische Angst? Vor Dimitri? Vor Josef?
Etwas an der Art, wie Helen mit ihr gesprochen hatte, nährte Vanessas Zweifel, dass sie keineswegs verrückt war, sondern nur so sehr von Ängsten verfolgt, dass es sie fast um den Verstand brachte.
Obwohl Vanessa von den Proben völlig erschöpft war, konnte sie nicht einschlafen. Sie wälzte sich im Bett herum und wusste nicht, ob sie bereits träumte oder in der unheimlichen Dunkelheit des Zimmers ihren Gedanken nachhing. Sie sah Helens ausgemergelten Körperin ihrem ausgeleierten rosafarbenen Pullover wie von Furien gehetzt über die stark befahrene Straße rennen. Doch als Helen sich zu ihr umwandte, sah Vanessa, dass es Margaret war. »Geh fort, solange du noch kannst«, flehte sie. Und bevor Vanessa sie fragen konnte, warum, verschwand sie in der Menge.
Auf einmal klopfte es, und sie befand sich wieder in ihrem Zimmer, beruhigt von dem Anblick der tief schlafenden TJ im Bett gegenüber. Daran, dass sie aufgestanden war, konnte sich Vanessa später nicht mehr erinnern, nur daran, dass plötzlich die Tür aufging und Justin vollkommen verschwitzt vor ihr stand.
»Bitte lass mich rein«, sagte er und trat näher. Er roch nach nassem Laub und kalten Herbstnächten, und seine Augen leuchteten wie ein klarer blauer Himmel. Vanessa bemerkte das Muskelspiel an seinen Armen, als er sich das Haar zurückstrich. Sein Blick glitt unwillkürlich über Vanessas Körper.
»Ich bin nicht allein«, flüsterte sie. Hinter ihr schnarchte TJ leise.
»Dann müssen wir eben leise sein.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Vanessa, obwohl sie es genau wusste. Sie hatte es immer schon geahnt.
Justin kam langsam auf sie zu und schob sie zurück ins dunkle Zimmer. TJ drehte sich im Schlaf auf die Seite, und ihr Haar breitete sich über das Kissen aus.
»Warum bist du gekommen?«
Justin gab keine Antwort; er trat nur näher heran und drückte sie gegen ihr Bett. Sein Hemdkragen stand offen und gab den Blick frei auf ein Stück unbehaarte Brust mit einem einzelnen Leberfleck. Vanessa starrte wie gebannt darauf und atmete den schwachen Duft seines Parfums ein.
»Du weißt, warum ich hier bin.« Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte.
»Was willst du?«, flüsterte Vanessa und griff nach der Bettkante.
Justin beugte sich vor und schob ein Bein zwischen ihre. Sein Blick wanderte von ihrem Hals zum Schlüsselbein zu den Spaghettiträgern ihres Tops. »Du weißt, was ich will.«
Sanft fuhr er mit der Hand an ihrem nackten Oberschenkel hinauf, und sie erschauerte bei seiner Berührung. Sie wollte sich losreißen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Justin drückte sich an sie.
»Du musst unbedingt fort«, sagte er, und seine Lippen berührten ihren Hals. »Du musst die Schule verlassen.« Sie spürte, wie seine Hand einen Spaghettiträger herunterstreifte und sich seine Finger tief in ihre Haut eindrückten. Sie gab ihren Widerstand auf, vergrub ihre Hände in seinem Haar und zog ihn an sich, überrascht von ihrer leidenschaftlichen Reaktion.
Justin stöhnte auf. »Du musst hier weg«, murmelte er. »Hier bist du nicht mehr sicher. Aber ich will nicht, dass du gehst.«
Vanessa ließ seine Worte auf sich wirken. Sie legte den Kopf in den Nacken, wie beim Tanzen. Doch in dem Moment, als er sich zu ihr hinunterbeugte und ihre Schultern küsste, ihr Schlüsselbein, ihren Nacken, entdeckte sie einen Schatten an der Tür.
Sie zuckte zusammen und richtete sich zögernd auf.
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