Dance of Shadows
gegen das Ende einer Sitzreihe. »Autsch!«, rief er aus, war aber sofort ruhig, als Steffie einen Finger auf die Lippen legte.
Im dämmrigen Licht aus der Beleuchterkabine sahen sie ein Mädchen, das mitten auf der Bühne stand. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt, und alles, was sie erkennen konnten, war ihre Silhouette: Haare, die zu einem festen Knoten zusammengefasst waren, und gekrümmte, zitternde Schultern.
Blaine signalisierte, dass sie lieber gehen sollten, aber Vanessa schüttelte den Kopf und trat auf die Bühne zu. Sie konnte das hauchdünne Ballettröckchen der jungen Frau sehen, das Gleiche, das sie auch vor einer Stunde getragen hatte, als sie auf der Bühne gewesen war. Im schwachen Licht konnte sie nur die blasse Haut ihres Rückens erkennen und die dünnen Träger ihres Trikots, die sich mit ihrem zuckenden Rücken bewegten. Als die junge Frau sich umdrehte, erkannte Vanessa, dass es Helen war, die Primaballerina.
Sie hatte rot geweinte Augen, und ihr Make-up war verschmiert. Vanessa erstarrte und wartete darauf, dass Helen etwas sagen würde. Doch sie schien sie gar nicht zu bemerken.
»Hallo?«, sagte Vanessa, und ihre Stimme hallte durch die Finsternis.
Die junge Frau sagte nichts.
Vanessa trat noch einen Schritt näher, und Steffie folgte ihr dicht auf den Fersen. »Entschuldigung, ist alles in Ordnung mit dir?« Sie wartete, bis sie Helen etwas flüstern hörte.
»Wie bitte?«, fragte Vanessa sanft und trat noch einen Schritt in ihre Richtung. »Ich habe dich nicht verstanden. Geht es dir gut?«
Dann jedoch merkte sie, dass das Mädchen gar nicht mit ihr sprach. Ihre Augen waren kummervoll und glasig, und ihre Lippen zitterten, als sie etwas Unverständliches murmelte.
»Was sagt sie da?«, flüsterte Steffie mit unsicherer Stimme.
»Ich weiß nicht«, murmelte Vanessa. »Ich glaube, sie sieht uns gar nicht.«
Vanessa warf einen Blick zurück zu Blaine und TJ, die sie drängend ansahen und heftig gestikulierten, dass sie lieber gehen sollten. Aber Vanessa wusste, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Sie trat noch einen Schritt näher, als auf einmal eine Stimme durch das Theater dröhnte.
»Was macht ihr hier?«
Die Tänzerin drehte sich um, und Vanessa und Steffie folgten ihrem Blick. Von links trat Dimitri, dem sie vorhin schon begegnet waren, hinter dem Vorhang hervor auf die Bühne. Die Schatten spielten auf den Konturen seiner Muskeln.
»Ihr dürft sie auf keinen Fall stören«, sagte er zu Vanessa und Steffie. »Sie wartet auf ihre Strafe, weil sie in der Vorstellung heute Abend einen schweren Fehltritt begangen hat. Es ist nicht das erste Mal, dass sie bestraft werden muss. Es gibt Leute, die allmählich die Geduld mit ihr verlieren … «
»Eine Strafe?«, fragte Vanessa, aber Dimitri schnitt ihr das Wort ab.
»Ihr dürftet gar nicht hier sein«, sagte er und trat mit grimmigem Blick näher. Vanessa beobachtete, wie Helen erstarrte. »Das Theater ist nach der Vorstellung für die Öffentlichkeit geschlossen.«
»Wir sind von der New Yorker Ballettakademie«, sagte Steffie. »Wir sind mit Josef gekommen und haben uns die Vorstellung angeschaut, und dann haben wir uns verlaufen.«
Dimitri runzelte die Stirn. »Ihr wisst doch, wo der Ausgang ist – also los, macht, dass ihr rauskommt!« Er wies zur Rückseite des Saals, und die Schatten bewegten sich auf seinem Gesicht, als er über die Bühne ging und das Handgelenk der Tänzerin berührte. Sie zuckte zusammen und schaute zur Seite.
»Was …?«, begann Vanessa, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie schaute die weinende junge Frau an, aber sie reagierte noch immer nicht.
Steffie fasste sie am Ellbogen. »Komm, wir gehen«, sagte sie und zog sie den Gang herauf Richtung Ausgang. Ehe sie durch die Tür traten, blickte Vanessa noch einmal über die Schulter zurück und sah, wie eine weitere Gestalt von der Seite her die Bühne betrat – es war ein Mann. Er ging wie ein Tänzer und war groß und hager – er erinnerte sie an … Josef? Aber es blieb nicht genug Zeit, um sich zu vergewissern.
Sie folgte Blaine und TJ durch das Foyer und hinaus in die Nachtluft am Lincoln Center. Die Leute drehten sich nach ihnen um, als sie über die Plaza am Brunnen vorbeirannten. Er war angestrahlt, und die Wasserfontäne sah aus, als bestünde sie aus lauter kleinen Glasstückchen.
»Was war denn da los?«, fragte Blaine, als sie ihr Wohnheim erreichten.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Steffie. »Irgendwie
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