Dance of Shadows
anderen in der Runde ernst an. »Elly ist nur eine von vielen. Die Schüler hören hier nicht einfach bloß auf – viele von ihnen verschwinden auf Nimmerwiedersehen.«
Vanessa musste schlucken.
»Was meinst du damit: Sie verschwinden auf Nimmerwiedersehen?«, fragte Blaine.
»Man hört nie wieder von ihnen«, erklärte Steffie. »Im besten Falle werden sie als Ausreißer oder Drogensüchtige abgetan. Und im schlimmsten Falle – hier, schaut euch das mal an.« Sie tippte auf den Bildschirm ihres iPads.
»Ich habe für meinen Journalismus-Kurs recherchiert und bin dabei auf einige Zeitungsberichte gestoßen, die sich mit Ballerinen beschäftigen, die abgehauen sind. Ich hab mal alle runtergeladen, wo es um verschwundene Schülerinnen der New Yorker Ballettakademie geht.«
Sie schob ihr iPad über den Tisch.
Vanessa hatte kaum die erste Überschrift gelesen, als sie von Furcht überwältigt wurde. Sie konnte nur noch ganz flach atmen.
Tanzschülerin verschwunden.
Vanessa betrachtete das Bild, das Porträtfoto einer jungen Frau, und las in der Bildunterschrift ihren Namen, ihr Alter und wo sie zuletzt gesehen worden war. TJ und Blaine schauten ihr über die Schulter und lasen mit.
Alle Artikel handelten von vermissten Tänzerinnen – von Mädchen, die einfach verschwunden waren. Vanessa hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Magen ein dicker Klumpen bildete. Neben einemBericht waren zahlreiche Fotos abgebildet, und der Text dazu lautete:
Vermisst. Wenn Sie irgendwelche Informationen über den Verbleib dieser Personen haben, wenden Sie sich bitte an die New Yorker Polizei
.
Der älteste Artikel war fast zwanzig Jahre alt, und der neueste stammte vom August dieses Jahres. Er trug die Überschrift
Auf und ab an der New Yorker Ballettakademie
und war ein ausführlicher Beitrag über ihre Schule. Es wurde davon berichtet, wie viele Mädchen hier bereits wieder aufgehört hatten. Den vier Freunden waren die Gründe vertraut: der große Druck, unter dem die Mädchen litten und den die Ballettmeister, Choreografen und oft auch die Eltern auf sie ausübten; dazu die körperlichen Anstrengungen und das hohe Verletzungsrisiko durch die vielen Proben und den Spitzentanz. Vanessa wusste das alles, aber jetzt jagte es ihr einen Schauer über den Rücken, als sie alles noch einmal zusammengefasst las und die Aufstellung der vielen Mädchen sah, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre aufgehört hatten. Und eines fand sie besonders auffällig: Alle Mädchen waren für die Hauptrolle in einer Aufführung vorgesehen gewesen.
»Sie hat einfach aufgehört und ist weg«, sagte eine frühere NYB A-Absolventin über eines der verschwundenen Mädchen. »Sie hat einen Brief geschrieben, in dem stand, dass sie es einfach nicht mehr aushielte. Ich habe angenommen, dass sie nach Hause zurückgeht, aber es könnte auch sein, dass sie ganz was Neues angefangen hat.«
Vanessa war überrascht, als sie beim nächsten Zitat Anna Frankos Namen entdeckte. »Ich habe gehört, dass sie jetzt einen Freund hat und bei ihm in Queens wohnt«, sagte Anna. Es ging um Chloë, das Mädchen, das als Letzte verschwunden war, knapp vor Beginn des neuen Schuljahrs. »Zum Schluss hat sie viel geweint. Sie war hier gar nicht mehr glücklich. Es ist wahrscheinlich besser für sie, dass sie gegangen ist.« Als der Reporter sie fragte, ob sie seitdem mit Chloëgesprochen hatte, wich Anna aus. »Dazu möchte ich nichts sagen«, war ihre Antwort.
»Anna?«, flüsterte Vanessa. Etwas an ihrer letzten Antwort stimmte nicht. An dem ganzen Artikel stimmte irgendetwas nicht. Obwohl es für jedes einzelne Verschwinden eine Erklärung gab, überzeugte Vanessa keine davon.
»Sie vertuschen das Ganze«, sagte sie. In diesem Moment beugte sich Mr Harbor über den Tisch.
»Und wie kommt ihr voran?«, fragte er und schaute auf Steffies iPad. Schnell schob Steffie ihr Heft darüber.
»Wir haben schon angefangen, eine Aufstellung zu machen«, sagte Blaine und hielt ein Blatt Papier mit unleserlichem Gekritzel hoch.
Mr Harbor blinzelte und versuchte vergeblich, einzelne Wörter zu entziffern. »Sehr schön«, sagte er und ging zur nächsten Gruppe.
»Sie vertuschen das Ganze?«, sagte TJ, sobald er weg war. »Was meinst du damit?«
»Findet ihr es nicht auch ein bisschen merkwürdig, dass so viele Mädchen verschwunden sind und man nie wieder etwas von ihnen gehört hat?«
»Aber hast du die Zitate denn nicht gelesen?«, sagte TJ. »Keiner von deren Freunden fand
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