Dancing Jax - 01 - Auftakt
Schimmel ausgebreitet. In einer dicken Schicht überzog er jede Seite und jeden Umschlag, bis jeder Fetzen Papier in stinkenden Moder gehüllt war. Dann krabbelte er die Wände hoch, fraß sich in die gemusterten Tapeten, bohrte sich in die eingerahmten Zertifikate und Urkunden und verschluckte die Familienfotos. Drei Generationen von Hankinsons wurden gierig ausgelöscht.
Der Anwalt und Mr Rackley trauten ihren Augen nicht. Der feuchte Gestank war unerträglich und doch konnten sie ihre Blicke nicht von dem gefräßigen, alles verschlingenden Schimmel losreißen, der sich seinen Weg über die Zimmerdecke bahnte, von der der Putz zu bröckeln begann und die sich mit einem Mal nach unten wölbte. Es war schlichtweg unglaublich – und absolut grauenerregend.
»Das reicht«, sagte eine strenge Stimme.
Alle wandten sich der Tür zu, in der ein kleiner Mann, weit über sechzig und mit schütterem Haar, erschienen war.
»Vater«, rief Mr Hankinson aus. »Schnell, lauf!«
»Sei kein Esel, Arnold«, schalt ihn der alte Mann, schloss die Tür hinter sich und sah dem Ismus mit gefasstem, unerschütterlichem Blick ins Auge. Schimmel tropfte von der Decke auf seine Schulter, doch er fegte ihn gelassen fort.
»Was hat dieser Radau zu bedeuten?«, verlangte er zu wissen. »Bis nach unten in den Eingangsbereich konnte ich euch deutlich hören!«
Sein Sohn riss die Augen auf und deutete mit fuchtelnden Bewegungen auf den Ismus und dann auf das Zimmer, das inzwischen vollständig von dickem schwarzen Mehltau überzogen war.
»Sind Sie dafür verantwortlich?« Hankinson senior wandte sich an den Fremden.
Ein listiges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Ismus aus. »Jangler«, grüßte er ihn.
Der alte Mr Hankinson hielt seinem Blick eine Weile stand, doch nichts verriet, was in ihm vorging. Dann wandte er sich an Mr Rackley.
»Ich bin untröstlich, dass Ihr Termin derart gestört wurde«, entschuldigte er sich mit aufgesetzt vergnügtem Ton. »Einige unserer Klienten sind … ein wenig stürmisch und ungewöhnlich.«
»V … vater!« Arnold geriet ins Stottern.
»Dieser Herr hier gehört zu einer zeitgenössischen und eher radikalen Theatergruppe, wo er als Illusionist auftritt«, erklärte der alte Mann. »Er ist Hypnotiseur und die beiden Herren vor der Tür sind postmoderne Clowns. Auf dem Edinburgh Festival sind sie hochgelobt worden, wenn ich nicht irre.«
Dieses spontane Lügenmärchen brachte den Ismus zum Lachen. Dies fand von ganzem Herzen seine Zustimmung. Sofort fing der unheimliche, nimmersatte Schimmel an zu schrumpfen und sich von der Decke zurückzuziehen. Auch von Wänden und Boden verschwand er. Das Weiß und die übrigen ausgebleichten Farben der Formulare kamen wieder zum Vorschein, völlig unbeschadet, während der Moder von den Schuhen des Ismus aufgesaugt zu werden schien, bis schließlich nichts mehr übrig war, abgesehen von dem schwachen Geruch nach Verfall, der noch immer in der Luft hing.
»Sie sollten im Fernsehen auftreten, Mann!« Mr Rackley war völlig sprachlos und klatschte begeistert in die Hände. »Sie sind ja besser als David Copperfield! Das war so echt! Wow!«
Arnold Hankinson stieß seinen Stuhl zurück und versuchte zu begreifen, was sich hier abspielte. Sein Vater redete besänftigend auf den Klienten ein, er hoffe, dass die Unterbrechung nicht allzu ärgerlich gewesen sei.
»Selbstverständlich werden wir Ihnen dieses Treffen heute nicht in Rechnung stellen«, beteuerte er.
»Aber, Vater«, mischte sich Arnold nun ein. »Die Polizei –«
»Oh, nun reiß dich endlich zusammen«, fuhr der alte Mann ihm über den Mund, »und hör auf, aus ein bisschen künstlerischer Improvisation ein Drama zu machen! Wenn ich den Herrn Zauberer nun in mein Büro begleiten dürfte, lassen wir euch für heute in Frieden. Dieser Raum ist ein einziger Saustall, Arnold. Was stimmt eigentlich nicht mit dir, Junge?« Ein letztes Mal nickte er Mr Rackley zu, dann geleitete er den Ismus aus dem Zimmer.
Völlig perplex starrte Arnold Hankinson mehrere Minuten lang die geschlossene Tür an. Dann ließ er den Blick über die verstreuten Akten und Ordner wandern. »Was ist hier eben geschehen?«, murmelte er.
Mr Rackley prustete laut lachend los. »Und ich dachte immer, dass Anwälte langweilig und spießig sind! Dabei sind sie ja noch durchgeknallter als Mr Bean!«
Im Vorzimmer versicherte Maynard Rumbold Hankinson der aufgewühlten Miss Linton, dass es keinen Grund zur Panik gab. Er kenne
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