Dancing Jax - 02 - Zwischenspiel
Gehirnwäsche verpassen wollte. Aber da war noch etwas anderes, etwas Greifbareres, das unmittelbar bevorstand. Plötzlich fiel es Spencer wie Schuppen von den Augen und ruckartig setzte er sich auf.
Stolz, es als Erster begriffen zu haben, blickte er in die Runde. Er musste es unbedingt jemandem erzählen, aber mit Marcus wollte er nicht reden, also wandte er sich an den Jungen zu seiner Rechten.
»Einunddreißig!«, platzte er aufgekratzt heraus. »Wir sollten einunddreißig sein! Das hat der Lockpicktyp doch gesagt, oder?«
Tommy Williams ließ seine Gabel fallen und wich erschrocken vor Spencer zurück. »Ich hab nix gemacht, echt!«, schrie er und riss schützend die Arme vors Gesicht.
Spencer war völlig schockiert darüber, wie verängstigt der Junge neben ihm war. Er konnte sich nicht annähernd ausmalen, was für Grausamkeiten Tommy seit der Veröffentlichung von Dancing Jax erlitten hatte. Oder war es davor schon schlimm für ihn gewesen? Das wusste nur Tommy. Spencer verstand bloß, dass er dafür sorgen musste, dass Tommy sich so schnell wie möglich besser fühlte. Er selbst war zu zurückhaltend, unsicher und schüchtern, um ihn in den Arm zu nehmen und zu drücken, so wie es Sam im Bus gemacht hatte. Also tat er das Einzige, was ihm einfiel. Er kitzelte ihn.
Zum ersten Mal seit Monaten lachte Tommy Williams und konnte gar nicht mehr aufhören. »Nicht! Lass das!«, bettelte er hysterisch. »Ich mach mir in die Hose!«
Entsetzt fuhr Spencer zurück und widmete sich eilig wieder seinem Essen. Kichernd und außer Atem sank Tommy in seinen Stuhl.
»Was war das denn für ’ne Aktion, Herr Spenzer?«, wollte Marcus wissen. »Dreißig was …?«
Spencer rückte seine Brille zurecht und zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. »Der Lockpick hat gesagt, wir sind achtzehn Mädchen und dreizehn Jungen«, fing er an. »Sind wir aber nicht. Zähl mal nach – es sind nur siebzehn Mädchen.«
»Na und? Dann kann der alte Trottel eben nicht rechnen.«
»Oder ein Mädchen ist noch nicht angekommen.«
Das weckte sofort Marcus Interesse. »Herr Spenzer!«, rief er und boxte ihn gegen den Arm. »Wenn du recht hast und sie scharf ist, dann geb ich dir ’ne Dose Pickelcreme aus!«
Lee Charles aß schweigend und musterte die anderen: die kleinen Grüppchen, die einigermaßen miteinander auskamen, und die Jüngeren, die sich langsam, aber sicher mit ihren Nachbarn anfreundeten, indem sie vorsichtig Fragen stellten und schüchtern antworteten. Er sah, wie Rupesh, der indische Junge, unglücklich auf das Essen vor sich starrte. Das Fleisch rührte er nicht einmal an und das verdünnte Bier schob er auf Armlänge von sich. Lee fragte sich, wie der Alltag bei ihm zu Hause inzwischen wohl aussah. Dancing Jax hatte vor keiner Religion haltgemacht. Die Gläubigen gingen zwar noch immer zum Gottesdienst in die Kirchen, Moscheen, Tempel und Synagogen, aber nur noch aus alter Gewohnheit, weil das eben Teil ihres unechten Lebens hier war. Aber wie lange würde das noch so weitergehen?
Lees Oma war ihr ganzes Leben lang gläubige Christin gewesen. Ihr makelloses Wohnzimmer, das Lee die ersten zehn Jahre seines Lebens nie unbeaufsichtigt hatte betreten dürfen, war voll mit ihren Schätzen, wie zum Beispiel dem alten Radiogramm, das so groß wie eine Kommode war, mehreren Glasschwänen, Familienfotos und einem gerahmten Gemälde mit dem Titel Christus an der Tür zum Herzen. Jeden Palmsonntag hatte seine Großmutter das kleine Kreuz mit nach Hause gebracht, das man ihr in der Kirche geschenkt hatte, und es hinter das Jesus-Bild geklemmt, wo es dann die nächsten zwölf Monate blieb. In diesem Jahr hatte sie das zum ersten Mal nicht getan und ihr geliebtes Bild musste einem der vielen Poster von Mooncaster weichen, die es inzwischen überall zu kaufen gab. Während Lees letztem Besuch bei seiner Oma hatte er das Christus-Bild versteckt hinter dem Geschirrschrank gefunden.
Er sah zum Ismus hinüber, der bei den Buben und Damen saß. Nichts in Lees Miene gab etwas von der Wut und dem Hass preis, die er für den Heiligen Magus empfand. Nur unter dem Tisch ballte er die Hände langsam zu Fäusten, während er sich vorstellte, eine schwere Pistole zu umklammern. In seiner Vorstellung hielt er die Waffe wie in den Filmen und Musikvideos schräg vor sich und pumpte diesen dürren Poser voller Blei. Das wäre ’ne echt feine Sache! Lee wandte das Gesicht ab, bevor sein Grinsen zu breit wurde, und betrachtete die Mägde,
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