Danger - Das Gebot der Rache
entgegen: eine blasse Frau mit wirren Haaren. Sie blickte gehetzt drein. Gequält.
Hairy S. jaulte, doch er lief nicht zur Tür oder zum Fenster, wie er es für gewöhnlich tat, wenn er draußen etwas hörte. Stattdessen hockte er sich zitternd neben sie, als spürte er etwas Böses, hier drinnen, mitten im Haus.
»Schsch
.
Schon gut«, sagte Olivia, hob ihn hoch und drückte ihn an sich. »Wir sind in Sicherheit.« Aber er hörte nicht auf zu zittern und wand sich in ihren Armen, um wieder runterzukommen. Sie setzte ihn ab, und er sauste mit klackernden Krallen über den Hartholzfußboden zu dem Durchgang, der in die Küche führte. Dort blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. »Hairy, du musst keine Angst haben.«
Er gab ein klagendes Winseln von sich.
»Ach, manchmal bist du ein echter Hasenfuß«, stellte Olivia fest, aber auch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas nicht stimmte. Und zwar nicht in Bezug auf Visionen, sondern auf ihr Zuhause. Sie dachte an Grannie Gins Worte, sie solle auf Gott vertrauen. Grannies Glaube war ein bisschen absonderlich gewesen: eine Mischung aus Katholizismus und ein paar Tröpfchen Voodoo. Aber harmlos. Grannie hatte Trost in der Bibel gefunden. Ebendiese Bibel lag auf dem oberen Brett des Bücherregals unter dem ovalen Spiegel. Ein dicker, ledergebundener Band, der sich seit vielen Jahren im Familienbesitz befand.
Hairy bellte und stellte sich hinter sie.
»Aus!«
Aber er hörte nicht auf und kläffte wie verrückt, als sie die Bibel aufschlug. Olivia öffnete sie bei Psalm dreiundzwanzig. Grannies Lieblingspsalm. Olivia las die vertraute Passage und erinnerte sich daran, wie Grannie sie ihr nachts mit leiser Stimme vorgesagt hatte, wenn sie sie ins Bett brachte: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich.«
Olivia blinzelte, um die Tränen zurückzudrängen, die ihr bei dem Gedanken an ihre Großmutter in die Augen stiegen. Die alte Frau hatte ihr die Worte vorgeflüstert und ihr dabei die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Merkwürdig, sie selbst hatte nie in dieser Bibel gelesen, das war allein Grannie vorbehalten gewesen.
Hairy knurrte. Offenbar beruhigte ihn diese Bibelpassage nicht. »Kleiner Ketzer«, neckte Olivia ihn und legte die Bibel zurück, doch der vordere Umschlag klappte auf und gab eine Seite frei, auf der die Duboises in den letzten hundertzwanzig Jahren jede Geburt, Eheschließung und jeden Todesfall in der Familie vermerkt hatten. Grannie Gin war so sorgfältig gewesen wie ihre Schwiegermutter und die Frau davor.
Olivia fuhr mit dem Finger über die Seite, fand die Einträge von der Geburt ihrer Mutter und dreier weiterer Kinder, die auf die Welt gekommen waren, nur um nach spätestens einer Woche begraben zu werden. Bernadette hatte die Ausnahme dargestellt: ein starkes Kind, während ihre Geschwister allesamt schwächlich gewesen waren.
Unter Bernadettes Namen stand die Reihe ihrer Eheschließungen und die Kinder, die sie geboren hatte.
Abrupt hielt Olivia inne.
Ihr Zeigefinger verharrte reglos über der Seite. Dort stand ihr Name, neben ihrem Geburtsdatum. Auch Chandras kurzes Leben war angegeben. Doch es war der Eintrag über ihrem Namen, der sie hatte erstarren lassen.
Männlicher Säugling.
Kein Name. Aufgeführt als Bernadettes Sohn, Vater war Reggie Benchet. Sollte das stimmen, war dieser namenlose Bruder kaum ein Jahr älter als Olivia.
Ein Bruder?
Sie hatte einen Bruder? Was war mit ihm passiert?
Ihr Herz klopfte. Noch einmal ging sie die Aufzeichnungen durch in der Annahme, etwas übersehen zu haben, aber es fand sich kein Eintrag, dass das Kind gestorben war. Das konnte doch nicht sein! Sie hatte nie seinen Namen gehört – sie mussten ihm doch einen Namen gegeben haben! –, und er war niemals erwähnt worden.
Als hätte er nie existiert.
War der Eintrag ein Fehler? Nein, das konnte nicht sein … ihre Großmutter hatte ihn selbst geschrieben. Grannie hätte niemals einen solchen Fehler gemacht.
Doch wenn er nicht gestorben war, wo war er dann?
Wieder verspürte Olivia einen eisigen Schauer, und als sie in den Spiegel blickte, erkannte sie etwas hinter ihrem Spiegelbild, eine sich verändernde Gestalt ohne echte Form.
Sie ließ die Bibel fallen und fuhr zurück, wobei sie fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre.
Ihr Herz raste, ihre Handflächen wurden feucht.
Der Spiegel zeigte ihr etwas, das sie
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