Danke für meine Aufmerksamkeit: Roman (German Edition)
auf Maltes Uhr, die mir offenbarte, dass die Dame da vor Kopf tatsächlich schon ganze zwölf Minuten lang ihre Schüler nicht anschaute. Sensationell! Ich betrachtete diese Angelegenheit weniger unter sozialen Gesichtspunkten, eher olympisch. Mich interessierte rasend, wie lange Frau Dörrlein auch für ihr eigenes Fortkommen in der Klasse noch ohne Blickkontakt auskommen würde.
Da! Sie hob den Kopf! Würde sie einen Schüler erstmalig näher ins Visier nehmen? Aaah, Chance verpasst! Ihr Blick landete schnurstracks beim Fenster. Während sie also den Baum, die Wolken oder irgendetwas sonst da draußen in Augenschein nahm, erteilte sie Jana und Marie die Aufgabe, den Dialog auf den Seiten 51–55 mit verteilten Rollen zu lesen. Die anderen Schüler sollten hinterher kundtun, wie viele verschiedene Formen sie gehört hatten.
So ging die Stunde dahin. Die Frau machte das schon länger. Garantiert. Die war keine Anfängerin. Sie wirkte dabei, wenn es so etwas überhaupt gibt, routiniert getrieben. Und weit weg. Ja, das war der Haupteindruck: wie weit weg sie war.
Ich war total gespannt auf die zweite Stunde gleich bei Frau Dörrlein. Angeregt von der Dienstagsgruppe, hatte die Klasse nämlich am Morgen vereinbart, auf das Wegschauen der Lehrerin in der zweiten Stunde gesammelt zu reagieren.
Herrlich! Es klingelte. Kurze Pause. In fünf Minuten würde es ein zweites Mal klingeln und dann würden die Schüler ihre Lehrerin mit dem Rücken zu ihr sitzend empfangen.
Aha: Klassentür auf, Klassentür zu, da war sie wieder, die Frau Dörrlein. Die Kinder saßen von ihr abgewandt und konnten demzufolge nicht sehen, was ich sah: Frau Dörrlein nahm an ihrem Pult Platz, Frau Dörrlein kramte in ihrer Tasche herum, Frau Dörrlein sprach die Klasse an und blätterte zeitgleich in einem großen Notizheft.
»Paul? Erklärst du deinen Klassenkameraden bitte, wozu es in der deutschen Sprache das Plusquamperfekt überhaupt gibt?« – Jetzt würde sie bemerken, dass sie von Paul nur den karierten Hemdrücken zu sehen bekam.
Würde sie nicht. Weil sie nun in eben genanntem Notizbuch eine Tabelle auszufüllen begann.
»Tja, also, weil man glaub ich mit dem Plusquamperfekt sagt, dass man irgendwas getan gehabt hat, das Präteritum ist die Stufe davor. Da hat man das noch nicht getan gehabt.«
»Versteh ich nicht ganz, Paul. Möchte das jemand noch mal mit anderen Worten beschreiben? Rena vielleicht?« Frau Dörrlein füllte aus.
»Warum gucken Sie einen eigentlich nie an?« Das war Polly.
»Was?« Frau Dörrlein füllte aus.
»Warum Sie einen nie angucken?« Polly wiederholte.
»Aber Polly ...!«
Sag ich doch, die Frau hatte super Ohren. Denn erst jetzt hob sie den Blick und entdeckte siebenundzwanzig Kinderrücken.
»Sie sind jetzt schon zehn Minuten hier drin, und Sie haben nicht gemerkt, wie wir sitzen, also: Sie gucken einen nicht an!«
»Was soll denn jetzt dieser Blödsinn?! Ihr dreht euch alle rum, und zwar sofort!«
Die Kinder waren spitze. Keiner zuckte. Und Paul legte nach:
»Aber Sie gucken uns doch eh nie an, das kann Ihnen doch total egal sein, wie rum wir sitzen!«
»Solange ihr anständig sitzt und eure Materialien korrekt sind, brauch ich euch auch nicht groß anzugucken. Wir sind hier ja nicht bei einer Ausstellung, wir sind im Deutschunterricht. Los, Leute, umdrehen, aber zackig!«
»Aber Sie können doch gar nicht wissen, ob wir unsere Materialien korrekt haben, Sie sehen doch nix! Und wer nicht sieht, der ...«
»Was hab ich für ’ne Augenfarbe?«, unterbrach Luise Paul.
»Das gibt jeden Moment einen Eintrag ins Klassenbuch, Herrschaften! Für jeden, der sich jetzt nicht rumdreht!«
»Sie haben noch nicht gesagt, was ich für ’ne Augenfarbe hab!«
»Grün! Und jetzt dreh dich rum, Pia!«
»Luise!«
»Meinetwegen! Luise. Rumdrehen hab ich gesagt!«
»Braun! Ich hab braune Augen. Und Ihre sind grün. Das weiß ich nämlich.«
Frau Dörrlein kramte im Pult, vermutlich nach dem Klassenbuch.
»So. Ich fange jetzt mit den Einträgen an. Felix? Wär schlauer, wenn du dich mal ganz schnell richtig hinsetzt, du hast wegen deiner Hampelei genug Einträge, würd ich mal sagen.«
Polly drehte sich als Erste um. Ihr folgten die anderen nach und nach.
»Frau Dörrlein?«
»Ja, bitte?«
»Sagen Sie doch mal. Warum? Warum gucken Sie uns nicht an?«
»Das ist doch Blödsinn, Polly, natürlich guck ich euch an!«
»Ja, jetzt mal gerade, klar, aber sonst! Sie gucken nie einen an von uns.
Weitere Kostenlose Bücher