... dann eben Irland (Das Kleeblatt)
Als er sich aufrichtete, ruhte sein Blick mit einer derart frappierenden Ausdauer auf Suse, dass sie nicht anders konnte, als ihn ebenso zu erwidern.
Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich, ohne dass sie hätte sagen können, wer von ihnen den ersten Schritt auf den anderen zu getan hätte. Sobald sie vor ihm stand, ergriff er ihre Hand, legte sie auf seine Schulter, die andere an seine Taille und hielt sie spiegelverkehrt auf die gleiche Weise. Trotz der verbrauchten Luft im Raum roch sie sein Aftershave, einen klaren, männlichen Duft.
Dass ihr bereits eine Sekunde darauf Hören und Sagen vergingen, konnte sie später weder der Musik, noch dem Tanz, weder dem reichlich genossenen Alkohol noch den Anfeuerungsrufen der Umstehenden zuschreiben. Es war Gearóid, der ihr die Sinne verwirrte.
Und ihre Unfähigkeit , ihn zu durchschauen. Bisher hatte er kaum zwei Worte mit ihr gewechselt und ihm schien selbst heute nicht viel daran gelegen zu sein, sich mit ihr zu unterhalten. Hatte er sie nur deshalb zum Tanzen aufgefordert, weil Máirtín seinem Bruder von ihrer Begeisterung für Musik und Tanz erzählt hatte?
Sie grübelte selbst dann noch über die Bedeutung seiner anzüglichen Blicke, mit denen er sie immer wieder bedachte, nachdem er mit ihr an die Theke auf ein Pint gegangen und sie wenig später an ihren Tisch zurückgekehrt war.
Aaran sagte etwas leise auf Gälisch zu Donal und warf Suse einen heimlichen Seitenblick zu. Der antwortete mit einer elegant formulierten Bemerkung ausgesprochen ordinären Inhalts und guckte sie unverbindlich an, während sich Máirtín beinahe vor Lachen an seinem Bier verschluckte.
Obwohl sie sich inzwischen einen brauchbaren Wortschatz an irischem Gälisch zugelegt hatte – und nach jahrelanger Berufstätigkeit fast ausschließlich unter Männern einen rauen Umgangston gewohnt war –, sah sie ein, dass es in dieser Situation besser war, sich ahnungslos zu stellen. Also wandte sie sich von der Unterhaltung ab, die alle Anzeichen zunehmender Degeneration zeigte, und nahm eines der Kinder auf den Schoß, das mit immer wieder zufallenden Augen auf dem Boden saß. Sofort kuschelte sich der Kleine friedlich an Suses Brust, den kleinen Finger der rechten Hand im Mund, und schlief ein.
Und in diesem Moment vermisste sie ihre eigenen Kinder mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. Noch hatten sich ihre Eltern nicht definitiv entschieden, wann sie aus Frankreich zurückkehren würden. Die Jungs fragten nach ihr, ganz klar, aber sie hatten jeden Tag derart viel Abwechslung und Spaß, nachdem sogar noch ihr Onkel Jasdan in dem Ferienhaus aufgetaucht war, dass sie erst beim Gute-Nacht-Kuss dazu kamen, etwas Sehnsucht nach ihrer Mutter zu verspüren.
Sie seufzte leise , weil sie im ersten Moment enttäuscht gewesen war von der Erkenntnis, wie leicht sie durch Großeltern zu ersetzen war, die ihre Enkel abgöttisch liebten und vermutlich nach Strich und Faden verwöhnten. Jeden Tag rief sie bei ihren Eltern an und jeden Tag musste sie sich die stets gleichen Fragen anhören. Fragen nach ihrem Befinden. Nach Matthias. Fragen, auf die es keine Antwort gab.
Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand und achtete nicht darauf, dass Máirtín wieder und wieder zu ihr schielte und sich seine Züge dabei verhärteten.
Überrascht zuckte sie zusammen, als der Wirt eine kleine Messingglocke läutete und dabei ein „Last Order!“ schmetterte. Sie hatte gar nicht registriert, wie schnell die Zeit vergangen war.
„Höchste Eisenbahn. Is é an t-imeacht é. Sonst verpasse ich …“
„Das Abendessen ist längst vorbei.“
„Nun dann … ich sollte wenigstens Máire …“
„Den Anruf haben wir schon vor drei Stunden erledigt.“
„Oh. Ihr denkt wirklich an alles“, brachte sie verblüfft hervor und blickte von Gearóid zu Máirtín und wieder zurück. „Danke. Das war sehr aufmerksam von euch.“
„Gern geschehen.“ Das Lächeln lag Gearóid nach wie vor auf den Lippen, doch die Art, wie er sie mit seinen rauchgrauen Augen betrachtete, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Es erinnerte sie an einen Wolf.
„Also dann , einen schönen Abend noch euch beiden. Und vielen Dank für den Tanz und … überhaupt für alles.“
„Will st du nicht einen Moment warten? Wir könnten gemeinsam gehen.“
„Trinkt euer Bier nur in Ruhe aus. Das kleine Stück bis nach oben schaffe ich schon.“
„Bist du sicher? Soll ich dir nicht lieber ein Taxi rufen?“
„Das ist nicht nötig.
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