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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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Fliesenboden vor dem Klo zusammengebrochen, an dem Abend, als sie nicht mehr leben wollte. Mam und Oliver waren nicht zu Hause, und als sie kamen, mussten sie das Schloss aufbrechen, um sie dort rauszuholen. Jedes Mal, wenn ich diese Wunde in der eleganten weißen Tür sehe, diese braunen geborstenen Holzsplitter, kann ich Mams Angst um Lina fühlen. Wenn Lina nicht ins Koma gefallen wäre, hätten sie die Tür bestimmt längst ausbessern lassen, um nicht dauernd daran erinnert zu werden, aber im Augenblick sind alle nur von der Sorge um Lina erfüllt.
    Ich will gerade in Linas Zimmer verschwinden, denn Alex’ Telefonat scheint zu dauern, da wird mir plötzlich etwas klar. Ich habe keine Ahnung, wo das Handy meiner Schwester ist. Warum bin ich darauf noch nicht gekommen? Ihre Anrufliste, ihre Favoriten, ihr Adressbuch, mit Sicherheit jede Menge Nachrichten und vielleicht sogar Fotos – das wird mich auf jeden Fall einen großen Schritt weiterbringen. Ich bin sicher, sie hat immer noch das altmodische rosa Klappteil mit einer Kette und Anhängern dran, wie wir es vor zwei Jahren bekommen haben. Mam legt immer größten Wert darauf, dass sich keine von uns übervorteilt fühlt. Als ich damals den teuren Granatring bekommen habe, gab es für Lina Ohrstecker, ich weiß das, weil sie mit Pa stundenlang am Telefon darüber gestritten hat. Er fand es übertrieben, konnte sich aber nicht durchsetzen.
    Ich muss Mam nach dem Handy fragen. Vielleicht hat Lina es bei sich gehabt, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde. In ihrem Zimmer ist es jedenfalls nicht, das hätte ich schon gefunden.
    Oder habe ich es doch übersehen? Schließlich habe ich nicht direkt danach gesucht. Ich gehe schnell in Linas Zimmer und klemme dort erst mal einen Stuhl unter die Klinke, damit Alex mich nicht beim Herumschnüffeln erwischen kann.
    Ich kippe zum dritten Mal Linas Eastpaktasche auf den Schreibtisch. Hefte, Bücher und Stifte, sonst nichts. Kein Handy, natürlich nicht. Aber auch keine verkrumpelten Blätter, keine Fotos. Je öfter ich darüber nachdenke, desto merkwürdiger finde ich das, denn Lina hat alle mit ihrer Fotomanie genervt. Sie hat von jedem unserer Kretaurlaube Millionen Fotos geschossen, aber auch sonst hat sie viel fotografiert, meist Menschen auf der Straße, die gar nicht wussten, dass sie aufgenommen wurden. Und auch in ihr Tagebuch hat sie Fotos geklebt. Früher hat sie mir die manchmal gezeigt.
    Ich seufze. Ihr Tagebuch. Noch so etwas, das fehlt.
    Ich betrachte den kleinen Haufen auf dem Tisch und mir wird mulmig zumute. Das sieht einfach nicht nach Lina aus. Früher hätte ich leere Kaugummipapiere, alte Taschentücher, Geldstücke, angenagte Radiergummis, Filter und Tabak in ihrer Schultasche gefunden. Sie kaut nämlich ständig an Radiergummis herum und sie raucht heimlich, was aber auch keiner weiß außer mir. Jedenfalls hat sie geraucht, als sie mir damals Merlin ausgespannt hat. Mir hat es nie geschmeckt, aber ihr schon. Ich schüttele noch einmal jedes Buch einzeln aus, nichts. Nicht ein Fitzelchen.
    Ihr Zimmer bietet einige Verstecke. Da wäre das Eisenbett von Ikea mit dem Himmel, der alte Bauernschrank von Oma Helga und eine Kommode vom Flohmarkt. Außerdem hat sie einen orangefarbenen Sitzsack, den gleichen hab ich in Pink von Mam bekommen.
    Dann ist da noch ihr chaotisches Bücherregal, in dem neben ihren Fotobüchern auch ein paar Kisten stehen.
    Aber alles das habe ich an den letzten Abenden immer wieder durchsucht. Immer mit dem gleichen Ergebnis. Nichts.
    Kein Handy, kein Tagebuch, keine Fotos.
    Nur ihre Kamera, aber der Speicherchip ist leer.
    Ich setze mich an ihren Schreibtisch und lege den Kopf in meine Hände. Unmöglich. Auch wenn zwischen meiner Schwester und mir seit einem Jahr Funkkontakt herrscht, ich kenne sie. Irgendwo muss sie ihre Schatzkiste haben, einen kleinen Puppenkoffer zum Abschließen, wo sie die Muschel von Opa und die Ballettschuhe von Oma und das Babybild von Papa, das sie bei ihrem letzten Besuch in Nusstal aus meinem Fotoalbum geklaut hat, aufbewahrt. Verdammt, wo hat sie das nur versteckt?
    Ich denke an meine Theorie, dass Lina ihr Handy vielleicht in der Hosentasche hatte, als sie eingeliefert wurde. Vielleicht haben die Schwestern es Mam gegeben? Ich gehe erst ins Wohnzimmer, dann in Mams Schlafzimmer und schaue mich genauer um. Aber obwohl es da, typisch Mam, sehr chaotisch ist, kann ich Linas Handy nirgendwo entdecken.
    Alex, der mittlerweile am Küchentisch sitzt und

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