Dann fressen sie die Raben
wichtig.«
»Warum?«
Ich gehe jetzt aufs Ganze, weil ich einfach wissen muss, wer mich hier die ganze Zeit so dreist anlügt. »Weil du nicht länger heimlich zu kommen brauchst.«
Verständnislos kräuselt er seine Lippen und seine Augen sehen verwundert aus. »Wie meinst du das?«
Er hat wirklich keine Ahnung. Dafür habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich gerade ganz großen Mist gebaut habe.
»Ach, nichts«, versuche ich abzuwiegeln und rette mich in eine Notlüge. »Ich hab nur gehört, ihr wärt zusammen gewesen.« Was natürlich nicht stimmt. Es war ein Schuss ins Blaue, aber so wie es aussieht, ist er gründlich danebengegangen.
Doch dann spricht Dennis weiter. »Wir waren nicht zusammen, nein, so würde ich das nicht nennen«, sagt er. »Lina und ich hatten mal eine Affäre. Aber das ist ewig her, das war lange vor diesem, ihrem, äh …«
Ich fasse es nicht, mein Testballon bringt ein unerwartetes Ergebnis! Irgendwie bedauere ich das plötzlich. Dennis könnte mir gefallen, aber wenn er mit Lina etwas hatte … Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll.
Dennis trinkt den Kaffee mit einem langen Schluck aus. »Es hatte nichts zu bedeuten, es war ein Irrtum. Ich war einfach nicht gut genug für sie.« Er schaut mich an wie Doug aus King of Queens, wenn er Carrie beichten muss, dass er schon wieder heimlich den Kühlschrank leer gegessen hat. »Es gibt sogar Menschen, die behaupten, ich wäre für keine Frau der Welt gut genug.«
Ich will gerade die nächste Frage stellen, da kommt leider Oliver aus Linas Zimmer heraus und auf uns zu. »Ruby, kann ich dich kurz sprechen?«
Ich schaue Dennis an, der nickt mir zu und ich gehe mit Oliver ein paar Schritte weiter.
»Ich mache mir Sorgen um Linas Zustand.« Oliver streift sich eine seiner faden blonden Haarsträhnen hinters Ohr. »Ich fürchte, Lina driftet immer mehr ab, ihre Funktionen werden schwächer. Wir müssen etwas tun. Kennst du ihre Lieblingsmusik?«
Mir wird ganz kalt. Was soll das heißen, ihre Funktionen werden immer schwächer? »Hat sie keinen iPod gehabt?«, frage ich.
Oliver schaut mich an, als hätte ich von Außerirdischen gesprochen.
»Oder einen MP3-Player oder so was?«
Er zuckt ratlos mit den Schultern. Ohne Kittel sieht man viel deutlicher, wie mager er ist und wie spitz seine Schulterknochen sind.
»Ich kümmere mich darum.«
»Wenn du nach Hause gehst und danach suchst, bleibe ich solange hier. Ich dachte, ich lese ihr vor. Deine Mutter hat gemeint, Lina würde vielleicht gern Harry Potter hören. Was glaubst du?«
Lina ist achtzehn Jahre alt! Harry Potter hat sie vor sechs Jahren gelesen. Aber was rege ich mich auf? Ich weiß genauso wenig wie er, was sie gerade gerne liest.
»Ich könnte mitkommen und dir beim Suchen helfen«, schlägt Dennis vor, der unseren Wortwechsel mitgehört hat.
Unschlüssig betrachte ich die beiden, Dennis, der mir gerade so überraschend eröffnet hat, dass er mal etwas mit meiner Schwester hatte, und den blonden mageren Oliver, der entweder der größte Heuchler vor dem Herrn oder aber wirklich um Lina besorgt ist.
»Ruby, beeil dich bitte, ja?« Oliver geht zurück zu Lina.
Und was jetzt? Ich schaue ihm nach. Kaum ist er bei Lina, kommt schon Jay und hängt eine neue Infusion an. Und ich verbanne endgültig den Gedanken aus dem Kopf, dass Oliver meiner Schwester etwas tun könnte. Wenn er das wirklich gewollt hätte, würde sie jetzt nicht mehr leben.
Trotzdem werde ich mich beeilen. Schon allein wegen Lina.
Ihre Funktionen werden schwächer, hat er gesagt.
Mein Kaffee ist kalt, ich werfe den halb vollen Becher in den nächsten Mülleimer. Dennis folgt mir und wirft seinen Becher ebenfalls weg. »Sollen wir eine Astro-Vorhersage für Lina machen und schauen, was die Sterne sagen?«
»Findest du das jetzt etwa witzig?«, pampe ich ihn an. »Ich habe das Gefühl, du kapierst überhaupt nicht, was hier los ist.«
Dennis legt mir die Hand auf den Arm. »Ich wollte dich doch nur ablenken. War eine blöde Idee.«
»Stimmt.« Ich erkläre ihm, dass ich lieber allein sein möchte, aber er besteht darauf, mich zu begleiten. Und während wir schweigend durch den immer noch eiskalten Nieselregen nach Hause laufen, merke ich, wie froh ich bin, dass er darauf bestanden hat, mich zu begleiten. Als könnte er meine Gedanken lesen, legt Dennis plötzlich den Arm um meine Schulter, drückt mich einmal kurz und lässt mich dann wieder los. »Bestimmt wacht Lina bald wieder auf«,
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