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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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LÖSCHEN. Goethes Gedichte und Thomas Mann an vorderste Stelle, Rosamunde Pilcher vorsichtshalber weg. Eine von den Eltern geschenkte Bibel wurde zurückgestellt, ebenso wie Erich Frieds Gesammelte Poesie in vier Bänden.
    Zum ersten Mal in ihrer seit Tagen geführten Imagekampagne kam Marie der Gedanke, dass die Bewertung ihrer sorgsam kreierten Identität vielleicht Ansichtssache sein konnte. Und das nicht nur im Bereich Literatur, sondern auch zwischenmenschlich. Eventuell hielt einer ihrer »Nachlassverwalter« sowohl ihren Ex-Freund Ben als auch Thomas Mann für einen arroganten, unsympathischen
Schnösel, die Kollegin Renate dagegen für liebens- und bewundernswert. RÜCKGÄNGIG. Die bereits dem Altpapier überantwortete Lektüre wanderte erst einmal zurück ins Regal und Marie unverrichteter Dinge aus dem Haus und zur Arbeit. Bei aller Euphorie, mit überstürzten Aktionen war jetzt keinem geholfen, am wenigsten ihr.
    Auf dem Weg ins Büro beschloss Marie, in den nächsten Tagen in ihrem engeren Personenumfeld Meinungsumfragen zu den verschiedensten Lebensbereichen zu machen. Zu jeder sorgfältigen Imagekampagne gehörte schließlich eine umfassende Markt- und Trendanalyse. SPEICHERN. Wie hatte sie das nur übersehen können?
    »Das frage ich mich auch.«
    Marie schreckte aus ihren Gedanken, die sie offensichtlich nicht ganz für sich behalten hatte.
    »Ich lauf jetzt schon ein paar Minuten hinter dir her, und du reagierst auf überhaupt nichts.« Tom überholte sie und stellte sich ihr in den Weg. Sie hatte ihn vor lauter marktanalytischen Betrachtungen tatsächlich nicht früher bemerkt.
    »Tom!?«
    »Na, wenigstens kennst du mich noch. Wie geht’s?«
    Du, fabelhaft! Ich bereite gerade meinen Selbstmord vor und komme eigentlich ganz gut voran. Ich glaube, das wird ganz gut werden, hätte Marie am liebsten geantwortet. Tom hatte mit ihr studiert und war einer von denen, deren Leben sich exakt nach Wunsch entwickelte. Stattdessen beschränkte sie sich auf ein: »Gut. Und dir?«
    »Alles paletti. Sophie und ich haben uns gerade ein Haus gekauft, und Kevin hat einen Notendurchschnitt
von 1,7. Er ist Mathematiker durch und durch. Würde mich wundern, wenn er später nicht in meine Fußstapfen tritt.« LAUTSPRECHER AUS.
    Während Tom weiter über seine Bilderbuchfamilie schwadronierte, war Marie in Gedanken längst bei ihrer Arbeit. Lag heute etwas Besonderes an? Teambesprechung, na ja. Vermutlich wieder end- und sinnlose Diskussionen über nebensächliche Sachverhalte. Nun, da konnte sie sich getrost raushalten. Schließlich lagen ihre Interessen inzwischen auf ganz anderen Gebieten. Wenigstens etwas. Sie hatte sich lange genug mit der Kurzsichtig- und Engstirnigkeit so mancher Kollegen auseinandergesetzt. SPEICHERN.
    Ach ja … Tom. Irgendetwas musste sie jetzt noch sagen, nachdem er die ganze Zeit neben ihr hergelaufen war und nun sogar bemerkt hatte, dass sich das Gespräch zu einem langen Monolog seinerseits entwickelt hatte.
    »Wie geht’s eigentlich Ben? Hast du von dem mal wieder was gehört?« Was Tom über ihr merkwürdiges Verhalten dachte, konnte ihr ja egal sein. Schließlich gehörte er mit Sicherheit nicht zu denen, die sie mit ihrem Tod von ihrer Einzigartigkeit zu überzeugen gedachte. Außerdem war der Hauptvorteil einer posthumen Imagepflege eindeutig der, dass man zu Lebzeiten bei Randpersonen keinen guten Eindruck machen musste. Ist der Selbstmord erst organisiert, lebt es sich ganz ungeniert.
    »Tja, gehört ist zu viel gesagt. Hab vor Kurzem einen langen Artikel über ihn gelesen. Hat sich wohl scheiden lassen und ist nach Amerika. Scheint ganz schön abzuräumen. Typisch. Der hatte ja schon immer Beziehungen ohne Ende.«
    Wäre sie mit Ben zusammengeblieben, wäre sie jetzt
also dem amerikanischen Traum zum Opfer gefallen. Das war keine sinnvolle Lebensalternative, fand Marie und verabschiedete sich mit einer gewissen Befriedigung von Tom. Die Trennung vom ach-so-tollen »Manager des Jahres« war wohl doch keine so schlechte Entscheidung gewesen. SPEICHERN.
    In der Firma überstand sie die Teambesprechung aufgrund ihrer präsuizidalen Gelassenheit nahezu unbeschadet und nutzte die Mittagspause mit den Kollegen für eine erste Marktanalyse in eigener Sache. In einem Punkt zumindest war recht schnell ein eindeutiger Trend erkennbar: Thomas Mann, Goethe und Konsorten, sozusagen die unumstrittenen Klassiker der deutschen Literatur, machten, auch wenn sie nicht gemocht wurden, auf jeden Fall

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