Dann gute Nacht Marie
hinunter. »Dann muss das eben Frau Möhring erledigen.«
Sollte sie. SEITENWECHSEL. Das hieß für Renate in jedem Fall Stress und Überstunden, worauf Marie gut verzichten konnte. Eigentlich lebte es sich ganz gut ohne jegliche Karriereabsichten und Konkurrenzängste. Im Nachhinein fielen ihr so einige Dinge auf, von denen sie sich zu lange das Leben hatte schwermachen lassen. Das war nun Vergangenheit … wie bald ihr ganzes Leben. Komischer Gedanke.
»Dafür würde ich Sie bitten, mir heute noch einmal eine Präsentation zu erstellen. Wäre das möglich? Frau Möhring kann ich das nicht anvertrauen«, setzte Schmidt noch nach. Wie freundlich er auf einmal sein konnte, nachdem sie sich nur ein einziges Mal gewehrt hatte. Hätte sie das vielleicht schon viel früher tun sollen? Sie willigte ein und freute sich ein bisschen, dass er ihre Arbeit inzwischen offensichtlich doch zu schätzen wusste.
Der Zensurplan für den heutigen Abend sah den Inhalt von Maries privatem Laptop vor. Sämtliche Ordner und Dateien sowie gespeicherte E-Mails und Briefe sollten durchgesehen und aussortiert werden. Wer auch immer das Gerät nach ihrem Tod benutzen würde, sollte keinesfalls alles privat Ausgearbeitete und die gesamte Korrespondenz vorfinden. Auch hier musste kräftig gekürzt und gelöscht oder bearbeitet und neu abgespeichert werden. COMPUTER STARTEN. Schon der Desktop war in dieser Form in keinem Fall vermachbar. Marie hatte irgendwann ein Darstellerfoto ihrer Lieblingstelenovela installiert. Und da diese Serie rückstandslos aus der Videosammlung hatte weichen müssen, war auch hier kein Platz mehr für derartige Kindereien. Hochkonzentriert und äußerst kritisch ging sie im Internet auf die Suche
nach geeigneten Bildern, die ihren Computer in vorderster Front repräsentieren konnten. SUCHEN …
Neben Fotos verschiedenster bekannter Leinwandgrößen, Autoren und Wissenschaftler stieß Marie bei ihrer Suche auf wohlgeformte halbnackte Männerkörper, ungekämmte Rockergesichter und triefende Sportlerfiguren. Doch bei aller Ästhetik würde eine derartige Fotografie auf dem Desktop doch nur eines vermitteln: unverheiratet, ungepaart, allein. Wieder war es Marie, als höre sie bereits die Kommentare der Kolleginnen, für die eine Frau ohne Mann sowieso kaum eine Daseinsberechtigung hatte: »Die Desktoptypen waren ja wohl die einzigen Kerle, die ihre Wohnung je von innen gesehen haben. Armes Mädchen.« VERWERFEN.
Marie entschied sich schließlich nach ausführlicher Recherche und reiflicher Überlegung für ein Foto eines Ölgemäldes von Paul Klee mit dem Titel »Villa R«. Es wirkte modern, ausgefallen, nicht depressiv und irgendwie intellektuell. Außerdem war es, ihrem Eindruck nach, nicht Hinz und Kunz geläufig und zeugte demnach von etwas Kunstverstand oder zumindest Kenntnis und Interesse an selbiger. Und die hatte Marie bis zu diesem Zeitpunkt bei ihrer Nachlassverwaltung komplett vernachlässigt. Herr Klee wies nun in unaufdringlich-dezenter Weise auf ihre verborgen gebliebene Kunstliebe hin. Ein durchaus nettes kleines Detail der posthumen Imagepflege, fand Marie. INSTALLIEREN.
Als das Bild kurz darauf den Laptopbildschirm zierte, fiel es Marie fast ein bisschen schwer, es durch Aufrufen des ersten Ordners wieder von demselben zu verbannen. Sie begann mit den Dateien, die sich hinter der Überschrift »Studium« verbargen. Ein Handout zum Seminar
»Grundlagen der Theoretischen Informatik« würde mit Sicherheit niemanden interessieren und mit zu viel Fachchinesisch nur von den weitaus größeren Sternstunden ihrer Studienzeit ablenken. Ebenso die »Projektorientierte Programmierung in Java« und der »Entwurf effizienter Algorithmen in der Bioinformatik«. VERWERFEN. Marie löschte die Dateien für immer von ihrer Festplatte und empfand keinerlei Wehmut dabei. Überhaupt fragte sie sich seit Beginn ihrer Lebenszensur immer wieder, warum ihr bisher die Entsorgung von Erinnerungsstücken und anderen Habseligkeiten so schwergefallen war. Nun, da sie sie unter dem Aspekt der Imagepflege betrachtete, war es ein Kinderspiel, sich davon zu trennen. Und gleichzeitig verspürte sie bei jedem Abwurf von Ballast zunehmend das Gefühl von Erleichterung und Befreiung.
Die Seminararbeiten »Künstliche Intelligenz« und »Lernen mit mobilen Robotern« vereinte Marie gekonnt in einem Ordner mit dem schicken Titel »Forschung«. Diese Themen waren wohl am besten dazu angetan, ihr Studium auch für die in keinster
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