Dann gute Nacht Marie
in den letzten Tagen wirklich zu kurz«, meinte Marie schuldbewusst, als er sie mit seinen zu schmalen Schlitzen verengten Augen von unten herauf vorwurfsvoll ansah. Die Tatsache, dass sie seine Zukunft nach ihrem Tod immer noch nicht zufriedenstellend geregelt hatte, verstärkte ihr schlechtes Gewissen in diesem Moment noch mehr, sodass sie dem Kater gleich mehrere Cracker aus seiner Schachtel gab. Diese plötzliche Großzügigkeit schien dem Tier aber auch nicht geheuer zu sein. Kasimir wich misstrauisch einige Schritte zurück, als traue er der Ruhe vor dem nun zu erwartenden Sturm nicht, und ließ die letzten zwei Cracker vorsichtshalber auf dem Küchenboden liegen. ZWISCHENABLAGE. Kluger Kasimir.
Marie fühlte sich vom Verhalten des Katers bis in den hintersten Winkel ihrer morbiden Seele durchschaut. Von ihr aus sollte das Tier doch die nächsten Tage um seine Futterstückchen herumschleichen. Aufdrängen
würde sie sie ihm bestimmt nicht. Gleichzeitig hoffte sie aber doch, dass er sie bis zum nächsten Morgen gefressen hatte, damit sie nicht mehrmals am Tag mit dem Kasimir-Problem und den noch zu bewältigenden Aufgaben konfrontiert sein würde. In diesem Moment wurde ihr wieder klar, dass sie wegen so zweitrangiger Aktionen wie der Wahrung ihres Autorengesichts vor dem guten Herrn Maibach einige weit wichtigere Erledigungen im Zusammenhang mit ihrem sorgfältig geplanten Tod sträflich vernachlässigte. SPEICHERN.
Das sollte sich in den kommenden Tagen wieder ändern. Schließlich hatte sie nun, da ihr Rest-Leben zum Rest-Urlaub geworden war, genügend Zeit, sich jeden Tag ausschließlich mit den verschiedenen Baustellen ihrer Aktion »Lebensende« zu beschäftigen. Nichts würde sie ablenken oder gar abbringen können, so viel war sicher. Fürs Erste einigermaßen beruhigt, hielt sie Kasimir noch einmal seine Cracker hin, und dieser vergaß in seiner Verwirrung über so viel Nachdruck sogar seine Prinzipien und nahm sie. Somit waren alle Fronten geklärt, und einem erfolgreichen Urlaub stand nichts mehr im Weg.
11
DOKUMENT 11. An ihrem ersten Urlaubstag machte sich Marie gegen Mittag voller Tatendrang auf den Weg zu ihrer ersten Shoppingtour seit mindestens drei Jahren. Denn wenn sie in der vergangenen Zeit irgendein Kleidungsstück benötigt hatte - was selten genug vorkam -, wurde es kurzerhand entweder bei einem Versand oder gleich im Internet bestellt. Stundenlanges Suchen und Anprobieren inmitten orientierungs- und haltloser Menschenmassen am Wochenende waren ihr zunehmend ein Gräuel gewesen. Und da sie auf ihre Garderobe in letzter Zeit nicht mehr allzu viel Wert gelegt hatte, gab es auch nie einen Grund, sich an einem Samstag, dem einzigen arbeitsfreien Tag der Woche, einer solchen Folter auszusetzen.
Am heutigen Freitag war das schon einmal nicht das Problem und die Motivation infolge eines halb leeren Kleiderschranks natürlich auch eine ganz andere. Ausgeschlafen und durchaus in Urlaubsstimmung nahm Marie die U-Bahn in die Innenstadt und stieg am Marienplatz aus. Die Fußgängerzone machte so gar nicht den Eindruck, als ginge ein Großteil der Erwerbstätigen auch tatsächlich ihrer Arbeit nach, doch das störte sie heute kaum. Die Aussicht auf einen ganzen nur fürs Einkaufen zur Verfügung stehenden Nachmittag und die damit verbundene Imagesteigerung beflügelte sie derart, dass sie
entgegen ihrer Gewohnheit als Erstes eine kleine Boutique ansteuerte. Um die hatte sie sonst eher einen großen Bogen gemacht, weil man dort damit rechnen musste, dass sich sofort eine der unterbeschäftigten Verkäuferinnen auf einen stürzte. Bisher hatte sie lieber allein und unbehelligt in einem möglichst unüberschaubaren Kaufhaus gesucht, als jemandem erklären zu müssen, was sie wollte. Heute war ihr das egal. ÄNDERN.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Satz, der vor Kurzem noch Fluchtreflexe bei ihr ausgelöst hätte, kam Marie jetzt gerade recht. Ja, Hilfe konnte sie durchaus gebrauchen, hatte sie doch keine Ahnung, wie sie ihre unscheinbare und stark dezimierte Garderobe standesgemäß und stilsicher aufpeppen konnte. Und zum ersten Mal in den letzten Tagen musste sie sich nicht einmal eine Ausrede einfallen lassen, um jemanden um Rat fragen zu können. Das musste ausgenutzt werden: »Ich suche etwas Ausgefallenes für einen besonderen Anlass.« Nicht gelogen.
»Handelt es sich, wenn ich fragen darf, um eine Festlichkeit oder eher einen Businesstermin?« Die Frau kannte sich offensichtlich aus.
»Eher
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