Dann mach ich eben Schluss
fasziniert. Allein schon die Profilfächer: Gestaltungslehre und Kunstbetrachtung, Technisches Zeichnen, Informatik, Medien und Wirtschaft. Die Texte dazu lesen sich wie eine Offenbarung, wie ein Angebot, das genau auf mich zugeschnitten ist. In Wahlkursen werden Bühnenbilder angefertigt und Innenräume gestaltet, mit speziellen Computerprogrammen werden architektonische Grundrisse, z. B. eines Konzertsaales oder eines Museums, auf dem Computerbildschirm in dreidimensionale Raumkörper umgesetzt. Auch einen Filmkurs gibt es. Praktika werden in Werbeagenturen, bei Designern, in Druckereien, in Ateliers freiberuflicher Künstler, Fotografen und Bildhauer durchgeführt, aber auch in Theaterwerkstätten, Filmstudios, Schreinereien und Modeateliers, Kunstschmieden usw. Die Fotos vom Gebäude gefallen mir, es wirkt hell, modern und groÃzügig. Am meisten aber faszinieren mich die abgebildeten Werke der Schüler, ihre Skulpturen, Bilder und architektonischen Entwürfe sehen bereits so professionell aus. Doch ich habe sofort das Gefühl, dort mit den entsprechenden Kenntnissen mithalten zu können. Papa müsste das alles nur mal sehen, denke ich aufgeregt, während ich alles um mich herum vergesse und immer weiter klicke, lese, mir Notizen mache. Er müsste sich nur ein einziges Mal die Zeit nehmen, mir zuzuhören und mit mir diese Webseite studieren, dann könnte er sicher nicht anders, als meinem Schulwechsel zuzustimmen. Hier würde er erkennen, dass gestalterische Begabung viel mehr bedeutet als nur Bilder zu malen. Im Zeitalter der digitalen Technik weià das eigentlich jeder. Es wundert mich, dass mein Vater, der sich so schlau vorkommt, in dieser Hinsicht so schmalspurig denkt. Aber selbst wenn ich ihn überzeugen könnte â eine Wiederholung der zwölften oder sogar elften Klasse würde er niemals dulden. Das käme für ihn einem Versagen gleich, ausgeschlossen für ein Mitglied seiner Familie. Also muss ich alles heimlich machen.
Nachdem ich alles gesehen habe, suche ich aus meinen Unterlagen die geforderten Dokumente für die Anmeldung zusammen und setze das Anschreiben und den Lebenslauf auf. In einem anderen Fenster habe ich dennoch meine Deutschpräsentation geöffnet, zu der ich schnell wechseln kann, falls jemand mein Zimmer betritt. Jetzt nur noch schnell die Bewerbung ausdrucken, danach brauche ich nur noch an unserem Faxgerät die letzten beiden Zeugnisse kopieren und alles in eine Bewerbungsmappe zu legen.
Ich fühle mich, als ob ich schwebe bei der Vorstellung, wie der Direktor der Roy-Lichtenstein-Schule sie in seinen Händen hält, den Anruf von Herrn Brückner noch in seinen Ohren. Der Junge MUSS was im Gestaltungsbereich machen, Hans, sonst geht er unter. Und er ist so talentiert. Du wärst ein Narr, wenn du ihn nicht aufnehmen würdest.
Feierlich schiebe ich alles zusammen in einen groÃen Umschlag. Vielleicht wird doch noch alles gut, mein Vater kann mir nicht ein Leben lang böse sein. Wenn ich erst studiere und später einen Beruf habe, der meiner Begabung entspricht, wird er mich verstehen, weil ich gut sein werde. Ich werde so gut sein, wie er es sich von mir immer gewünscht hat, und dann wird er mich endlich akzeptieren, seinen Sohn, und stolz auf mich sein. Er wird gar nicht anders können, weil jeder ihm sagen wird, wie gut ich bin. Er wird es selbst sehen. Endlich.
12.
Die Anmeldeunterlagen bringe ich zur Roy-Lichtenstein-Schule, als bei uns einmal die ersten drei Stunden ausfallen, so wird es von niemandem zu Hause bemerkt. Ich schleiche zum Gebäude und die Treppen hinauf, als würde ich etwas Verbotenes tun, leicht geduckt und den Kopf gesenkt, wage kaum, mich umzusehen. Im Amtszimmer wirft die Sekretärin einen kurzen Blick auf meine Zeugnisse, dann verkündet sie, ich werde in einigen Wochen einen Brief erhalten, aus dem ich das weitere Vorgehen entnehmen könne. Mehr passiert nicht. Ich schleiche wieder hinaus und fahre zu meiner Schule.
Danach beginnt die Zeit des Wartens. Ich halte es kaum aus, versuche die Zeit irgendwie zu nutzen, habe Natalie eingeweiht. Zum Glück ist sie auf meiner Seite.
»Das machst du!«, zischte sie sofort, leise, damit unsere Eltern uns nicht hören konnten. »Da gehst du hin, und wenn sie uns dafür gleich beide enterben! Versprich mir, dass du das machst! Ich passe auch mit auf die Post auf, damit keiner sie vor dir findet.«
In der
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