Dann mach ich eben Schluss
nichts«, sagt sie. »Es ist doch alles schon so schrecklich, und mit eurem Gezeter und diesen Drohungen macht ihr es nur noch schlimmer. Hört auf.«
»Eine sehr lobenswerte Einstellung, Johanna«, stimmt Bollschweiler zu. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, wir beginnen den Mathematikunterricht heute selbstverständlich mit leichteren Wiederholungen und dem Vergleich der Hausaufgaben zu heute. Schlagen Sie bitte in Ihren Büchern die entsprechende Seite auf und nehmen Sie Ihre Hefter zur Hand. Hat irgendjemand die Aufgaben nicht erledigt?«
Noch ehe die Schüler widerstrebend nachgeben und den Anweisungen Bollschweilers Folge leisten, wird plötzlich die Tür von auÃen aufgerissen.
»Sven, kommst du bitte ganz schnell rüber ins Chemielabor«, keucht Frau Lietdke. »Eine Schülerin ist völlig auÃer sich, sie hat von Maximilians Tod erst heute erfahren und hyperventiliert mit nicht zu stoppendem Herzrasen. Ich glaube, ich muss einen Krankenwagen rufen, kannst du solange bei den anderen bleiben?«
Bollschweiler nickt und stürmt hinaus.
»Johanna«, hört er Torben in vorwurfsvollem Tonfall sagen, während er der Kollegin hinterhereilt.
Als Bollschweiler am nächsten Morgen das Schulgebäude betritt, bemerkt er, dass die Schüler sich abwenden, sobald er ihnen auf dem Gang begegnet. Wie üblich versucht er, dies zu ignorieren, doch das verhaltene Grinsen einiger Jungen sowie die Beobachtung, dass sie fast alle über ihre Mobiltelefone gebeugt in kleinen Gruppen zusammenstehen, verwundert und verunsichert ihn.
Später im Unterrichtsraum sieht er den Grund für das seltsame Verhalten. Der Internetbrowser des Smartboards ist geöffnet, jemand hat sich unter einem Fantasienamen in Facebook eingeloggt. In ÃbergröÃe leuchtet ihm die Zeichnung, die Maximilian von ihm anstelle der Abiklausur angefertigt hat, entgegen. Noch mehr als auf Papier betont das Bild auf diese Weise Bollschweilers hoch gerecktes Kinn, den verächtlichen Blick, die herabgezogenen Mundwinkel, das akkurat gelegte dunkle Haar. Wie sind sie nur an das Original gekommen, fragt er sich im Stillen, doch beim nächsten Atemzug überläuft ihn die Hitze wie ein Fieberschub bei der Erinnerung daran, wie er selbst das Bild vom Tisch gefegt hatte. Die Schüler müssen es gefunden und abfotografiert haben, als er den Raum verlassen hatte; vor dem Unterricht hatte er nicht mehr daran gedacht, es aufzuheben und wieder verschwinden zu lassen. Der gestrige Unterrichtstag hatte von allen Lehrern nahezu übermenschliche Kräfte gefordert, und Bollschweiler war nicht nur einmal ähnlichen Vorwürfen und provozierenden Fragen ausgesetzt wie in dem Grundkurs, dem normalerweise auch Natalie Rothe und Annika Pietz angehören. Nun hatte er gehofft, spätestens nach der Schweigeminute für Maximilian werde sich die Lage etwas beruhigen, doch er ahnt, dass die Schüler das Bild nicht nur in diesem Kursraum präsentieren, sondern dass jeder es kennt und auf sein Handy hochladen kann. Schon nach der zweiten Stunde ist ihm klar, dass sich das Bild überall befindet. Schüler haben es ans Schwarze Brett gehängt, in die Waschräume, in jeden Klassenraum, über den Vertretungsplan, zwischen die anderen Bilder Maximilians, die im Schulgebäude ausgestellt sind, an die Tür zum Lehrerzimmer, in die Umkleideräume der Turnhalle, in die Mensa. Wie das Suchbild eines Verbrechers prangt es an jeder bedeutenden und auffälligen Stelle des Schulgebäudes, jedoch ohne dass jemand einen Text dazu verfasst hätte. Die Zeichnung allein hängt überall, Bollschweilers Porträt, kommentarlos und so gelungen, dass niemand es als Beleidigung auffassen könnte, obwohl die Grenze zur Karikatur nicht klar zu ziehen ist. Er kann niemanden anklagen, sich nicht wehren, zum ersten Mal in seiner Lehrerlaufbahn fühlt er sich ratlos, als ob der feste Boden seiner Autorität, auf dem er immer sicher zu stehen meinte, in Wahrheit nur aus Treibsand besteht.
»Wir entfernen sie wieder«, schlägt die Kollegin Liedtke in der zweiten groÃen Pause unvermittelt vor. »Ich helf dir dabei, Sven, jetzt gleich oder spätestens nach der letzten Stunde. Maximilian hat super gezeichnet und jeder weiÃ, dass ihr nicht die besten Freunde wart, aber jetzt ist auch gut. Es reicht nun wirklich. Die haben das alle auf ihrem Handy, aber sie können ruhig
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