Dann muss es Liebe sein
Unfruchtbarkeit erinnert. Ich verkneife es mir, sie darauf hinzuweisen, dass das Röntgenbild weder mit einer Identifikationsnummer noch mit einem Namen oder einem Hinweis darauf versehen ist, dass es sich um das rechte und nicht um das linke Bein handelt, was immer sehr sinnvoll ist. Ich glaube, ganz gleich, was ich sage, im Moment würde Emma es in den falschen Hals kriegen.
Zum Mittagessen genehmige ich mir ein KitKat und einen Apfel, während ich mit einem Ohr Megadrive Radio höre. Der meteorologische Dienst warnt davor, dass innerhalb der nächsten vier Tage so viel Regen fallen soll wie sonst in einem Monat. Es hat schon angefangen zu nieseln, und ich denke mit Schrecken an die schlammigen Fußabdrücke, die die nassen Hunde in unsere Praxis tragen werden.
Ich gehe nach vorne an den Empfang und schaue ins Terminbuch. Frances sitzt strickend hinter dem Tresen. Ich sage nichts. Sie macht Überstunden und hilft im Büro aus, seit Emma nur noch sporadisch in der Praxis vorbeischaut.
»Was stricken Sie denn da?«, frage ich.
Sie hält ein weißes Strickzeug in die Höhe.
»Das wird ein Babyschlafsack. Mit Mützchen, damit Ihr Baby es nachts auch schön kuschelig warm hat.«
»Äh, danke, das ist sehr nett von Ihnen«, erwidere ich und streichle meinen Bauch, aber insgeheim denke ich an Überhitzung und plötzlichen Kindstod.
»Kleine Babys strampeln sich nachts immer frei, dann wird ihnen kalt und sie fangen an zu schreien. Der Schlafsack wird ihm dabei helfen durchzuschlafen.« Frances wendet sich wieder ihrem Strickzeug zu. Die Nadeln klappern, und das Wollknäuel auf dem Tisch rollt herum, wenn sie am Faden zieht. »Heute ist Saint Swithin’s Day – wenn es heute regnet, regnet es einen Monat am Stück.«
»Es regnet«, bestätige ich und schaue aus dem Fenster. Ein Schwarm Möwen sitzt in einer langen Reihe auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser – ein Zeichen dafür, dass sich das Wetter verschlechtern wird.
»Drei ihrer Termine für heute Nachmittag haben wegen der Wettervorhersage schon abgesagt.«
Wieso das denn? Ein bisschen Regen hat doch noch niemandem geschadet, abgesehen von der einen oder anderen Heldin in einem Brontë-Roman vielleicht, aber das war auch bloß ein Mittel zum Zweck, um sie mit dem Helden zusammenzubringen. Beim Gedanken an Helden kommt mir gleich wieder Alex in den Sinn und wie viel Glück ich eigentlich habe.
Ein Windstoß lässt das Fenster klappern, und irgendwo fällt mit einem lauten Knall eine Tür ins Schloss. Mittlerweile prasseln dickere Regentropfen gegen die Scheibe.
»Ich hoffe, die Boote sind alle sicher im Hafen.« Frances hält einen Moment inne, und ich bin mir sicher, dass sie an den Tag zurückdenkt, als der Trawler Emily Rose in einem Sturm sank und ihr Mann mitsamt seiner Besatzung unterging. In der Kirche gibt es einen Gedenkstein für die Männer; ihre Leichen wurden nie gefunden. »Sie wissen sicher nicht mehr, wie der Taly zum letzten Mal über die Ufer getreten ist. Das muss jetzt sechs oder sieben Jahre her sein, noch bevor Emma ihre Praxis hier eröffnet hat. Das Wasser kam bis ins Stadtzentrum. Alle Läden waren überflutet. Bei Mr Lacey lösten sich die Etiketten von den Weinflaschen, und er musste sie als Überraschungspakete versteigern. Und im Otter House …«
»Ich weiß«, unterbreche ich sie. Kurz vor meinem endgültigen Einstieg in die Praxis hat Emma mir die dreiviertelhohe Tür in der Rückwand des Schranks, in dem wir das Büromaterial aufbewahren, gezeigt. Dahinter führen steile Steinstufen in den Keller. Wir sind zusammen nach unten gegangen, und ich habe die Wasserspuren gesehen, die fast bis ganz oben an die unverputzte Ziegelwand reichen. Wir sind nicht lange geblieben. Es roch, als sei da unten irgendwas gestorben. »Aber das kann ja mit dem neuen Hochwasserschutzprogramm nicht mehr passieren.«
»Ach, das«, entgegnet Frances abfällig. »Sie sagen, das sei ebenso sinnvoll, wie ein Netz auszulegen, um darin eine Welle zu fangen.«
Ich weiß nicht genau, wen sie mit »sie« meint, doch ich vermute, es handelt sich um einige der vielen selbst ernannten Experten in Talyton, die immer alles besser wissen als die Fachleute. Ich gehe einen Schritt näher an den Tresen heran, strauchele und greife Halt suchend nach der Kante.
»Maz, Sie sind ja plötzlich ganz blass. Was ist denn los? Tritt das Baby?«
»Ja, ich glaube schon.« Ich schaue an mir herunter und versuche mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal
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