Dann muss es Liebe sein
habe die umliegenden Wiesen überflutet. Sie steckt immer wieder den Kopf zur Tür herein, um mich über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten, während ich zusammen mit Shannon Jacks Pfote operiere, an der er seit einer Woche herumknabbert. Mit meiner Pinzette suche ich hoffnungsvoll nach einer Grasspelze. Nichts. Diesmal brauche ich Shannon nicht darum zu bitten, den Einfallswinkel der Lampe zu korrigieren. Inzwischen kennt sie sich mit der Routine aus. Aber als sie gerade die Hand nach dem Lampengriff ausstreckt, geht das Licht aus. Die Neonleuchten flackern und verlöschen, und ich höre ein anhaltendes Klicken und Klackern, als sich nacheinander auch andere Geräte in der Praxis ausschalten.
»Ein Stromausfall«, sage ich. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Hol die Taschenlampen aus dem Sprechzimmer, Shannon.«
Shannon kommt mit Frances und einer Taschenlampe zurück. Sie richtet den Lichtstrahl auf Jacks Pfote, und ich entdecke einen winzigen gelblichen Blattstiel, der im Fleisch zwischen seinen Zehen steckt. Ich packe ihn mit der Pinzette und ziehe ihn heraus.
»Tadaa!« Ich halte ihn in die Höhe. »Ich habe ihn gefunden.«
»Kann ich ihn jetzt aufwecken?«, fragt Shannon.
»Ja, danke, Shannon.« Ich nähe die Wunde mit ein paar Stichen, beaufsichtige Shannon, als sie einen leichten Verband anlegt, und kümmere mich anschließend um den ausgefallenen Strom. Ich öffne den Sicherungskasten im Schrank gegenüber dem Umkleideraum, in dem wir das Büromaterial aufbewahren, und lege ein paar Schalter um. Nichts passiert.
»Ganz Talyton ist ohne Strom«, ruft Frances, und ich wünschte, sie klänge dabei nicht ganz so freudig erregt. »Auf dem Marktplatz werden Sandsäcke gefüllt. Mr Laceys Erdgeschoss steht schon unter Wasser.«
Das drohende Hochwasser macht mir weniger Sorgen als der Stromausfall. Wir haben kein Notstromaggregat, und ich frage mich, wie wir im Dunkeln etwaige nächtliche Notfälle behandeln sollen. Und was wird aus den Impfstoffen im Kühlschrank und den Tierkadavern in der Tiefkühltruhe? Ich leite die Praxisanrufe auf mein Handy um, damit unsere Kunden mich auf jeden Fall erreichen können.
»Maz, haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Es gibt eine Hochwasserwarnung für ganz Talyton und Umgebung.« Frances hält inne, und ich sehe ihr an, dass sie von mir erwartet, das Heft in die Hand zu nehmen und etwas zu tun. Das Problem ist nur, ich habe keine Ahnung, was. »Ich glaube, Emma hat hier irgendwo einen Hochwasser-Notfallplan.«
»Ich drehe schon mal den Hauptwasserhahn ab«, schlage ich vor. Ich werde Emma nicht anrufen und sie nach diesem Plan fragen – sie soll sich gefälligst bei mir melden.
»Lassen Sie mich erst noch den Wasserkocher füllen«, wendet Frances ein. »Und du, Shannon, hol alle Eimer und Flaschen, die du finden kannst. Nicht, dass wir am Ende ohne Wasser dastehen.«
Wahrscheinlich übertreiben wir maßlos, denke ich, als ich wieder zurück in den Flur eile und mich daran zu erinnern versuche, wo ich den Absperrhahn gesehen habe. Ich merke, wie meine Füße in den Crocs kalt und feucht werden, und mir fällt auf, dass meine Schritte ein leises Plätschern erzeugen.
Und dann gerate ich doch allmählich in Panik, denn als ich auf den Boden schaue, bemerke ich eine dunkle Brühe, die sich immer weiter ausbreitet. Das Wasser kommt unter der Tür des Büromaterialschranks hervor. Ich plansche darauf zu und schrecke bei jedem Schritt unwillkürlich vor dem unangenehm stechenden Flussgeruch zurück. Es riecht eindeutig nach faulen Eiern. Ich öffne die Schranktür und sehe, dass die Papierpakete auf den unteren Regalen schon völlig durchweicht sind. Das Wasser strömt unter der dreiviertelhohen Tür hervor, die zum Keller hinabführt. Als ich auch diese öffne, blicke ich in einen überlaufenden Brunnenschacht voll dunklem Wasser. Ich kann den Boden nicht mehr erkennen, und mir kommt unwillkürlich die Titanic in den Sinn. Wir sinken.
»Frances!«, brülle ich. »Wir haben ein Problem!« Ich schiebe die Tür wieder zu, doch das Wasser lässt sich nicht aufhalten. Unaufhörlich sickert es darunter hervor und dringt immer tiefer in die Bausubstanz des Hauses ein.
»Na, was habe ich gesagt?«, bemerkt Frances hinter mir.
Hektisch fange ich an, das Papier auf ein höheres Regalbrett umzuräumen, aber schon nach zwei Sekunden wird mir klar, dass es wichtigere Dinge zu retten gibt als ein paar Packen Papier, und ich klettere wieder aus dem Schrank.
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