Daphne - sTdH 4
Aber
sie konnte nicht einmal den Anfang machen, sich auszumalen, was Papa getan
hatte.
Sie zog
sich ganz in sich zurück, als sie im Glanz von Hunderten von Wachskerzen mit
Lady Godolphin die Stufen hinaufstieg.
Lady
Godolphin erstrahlte wieder wie früher in voller Kriegsbemalung. Ihr Dekolleté
und ihr Gesicht waren mit einer dicken weißen Schicht bedeckt, und auf ihren
Wangen prangten zwei flammendrote Rougekreise. Um ihre Augen hatte sie
Kohlestift aufgetragen und sich in eine Wolke von »Mädchenblüte« gehüllt.
Daphne
betrat schüchtern den Ballsaal und blickte mit ihren großen Augen, die
sorgfältig jeden Ausdruck vermieden, in die Runde.
Plötzlich
umkrampfte sie Lady Godolphins dicken Arm so schmerzhaft, daß Ihre Ladyschaft
die umstehenden Leute durch den Aufschrei »Was zum Teufel...!« schockierte.
Ihre fahlen
Augen suchten blitzschnell den Ballsaal ab, um herauszufinden, was die sonst
so gelassene Daphne so erregt haben könnte.
Annabelle
war da, eine strahlende und schöne Annabelle, die ungeniert kokettierte und gar
nicht gemerkt zu haben schien, daß ihr Mann, der Marquis von Brabington, gerade
durch die gegenüberliegende Tür hereingekommen war. Und dann war da noch
dieser Mr. Garfield. Er blickte wie hypnotisiert zu Daphne herüber.
Und drüben,
an einem der hohen Fenster, stand Colonel Arthur Brian im Gespräch mit der
Duchess of Ruthfords. Lady Godolphin kam zu dem Entschluß, daß Daphne so
erregt war, weil sie beim Anblick des Colonels heftige Anteilnahme mit ihr empfand.
»Tu so, als
hättest du ihn nicht gesehen«, zischte Lady Godolphin, und Daphne, die dachte,
sie meinte Mr. Garfield, befolgte ihren Rat und blickte in die andere
Richtung.
Weder
Daphne noch Lady Godolphin hatten je einen solchen Erfolg wie auf diesem Ball
gehabt. Lady Godolphin ließ wie immer alle ihre Reize spielen, und Daphne
brillierte und lachte und flirtete wie nie zuvor. Ihre Maske der dümmlichen
Schönheit hatte sie fallenlassen, und sie wirkte fröhlich und bezaubernd, auch
wenn es in Wirklichkeit nur eine andere Maske war, um Mr. Garfield zu zeigen,
daß sie sich nichts aus ihm machte, und um zu vermeiden, an Annabelle auch nur
zu denken.
Man
soupierte und man tanzte – Quadrille und Walzer, schottische Tänze und Galopp.
Nicht
einmal forderte Colonel Brian Lady Godolphin zum Tanz auf, und nicht einmal kam
Mr. Garfield in Daphnes Nähe.
Plötzlich
war es fünf Uhr früh, und Daphne und Lady Godolphin, die sich nach einem sehr
lebhaften Volkstanz in einer Ecke des Ballsaals begegneten, merkten, daß weder
Mr. Garfield noch der Colonel irgendwo zu sehen waren.
»Ich bin
total erschöpft«, sagte Lady Godolphin und fächelte sich müde Luft zu. »Willst
du nach Hause gehen, Daphne?«
»Bitte«,
sagte Daphne. Sie fühlte sich ausgelaugt und elend und schwer enttäuscht.
Sie
schleppten sich müde zu ihrer Kutsche.
»Mein Herz
ist gebrochen«, seufzte Lady Godolphin. »Ich hoffe, du mußt nie erfahren, was
es heißt, Daphne, sich nach einem Mann zu verzehren, aber dieser Mann schaut
dich so an, als ob du Luft wärst.«
Ein ersticktes
Schluchzen entrang sich Daphne, und Lady Godolphin drückte ihr die Hand.
»Irgend etwas zehrt an dir, Daphne, und ich habe es bis jetzt nicht gemerkt. Du
kannst es mir ruhig sagen.«
»Ich kann
nicht«, schrie Daphne auf.
»Versuch
es.«
Daphne
entschloß sich, wenigstens eines der Übel, die sie plagten, auszusprechen.
»Ich kann
den Anblick von Mr. Archer nicht ertragen«, jammerte sie.
»Aha!«
sagte Lady Godolphin tief befriedigt. »Das kann ich verstehen. Du brauchst dir
keine Sorgen zu machen. Ich werde ihm den Laufpaß geben.«
»Nein!«
schrie Daphne. »Er wird reden und...«
Sie biß
sich auf die Lippen.
»Warte, bis
wir zu Hause sind«, sagte Lady Godolphin, die sich allmählich ernsthaft Sorgen
machte. »Kein Wort mehr. Ich habe vor, der Sache auf den Grund zu gehen.«
Daphne saß
zitternd da. Sie konnte es Lady Godolphin einfach nicht sagen, und doch – die
Versuchung war sehr groß. Es schien nichts zu geben, was die verstockte
Sünderin schockieren könnte.
Als sie am
Hanover Square ankamen, ging Lady Godolphin mit Daphne in den Grünen Salon, goß
zwei unmäßig große Cognacschwenker voll, bestand darauf, daß Daphne ihren
»hinunterkippte«, und verlangte dann, alles zu erfahren.
Von dem
starken Trank ermutigt und überwältigt von dem Wunsch, sich von dem furchtbaren
Geheimnis zu befreien, begann Daphne zu sprechen, und Lady Godolphin
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