Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
einsame Landschaft. Wir sprechen nicht miteinander, das Radio ist unser einziger Begleiter. Gerade erfüllt Neimans »Ton sourire« das kleine Auto bis in den letzten Winkel aus. »Ton sourire me manque. Loin de toi je n’sais plus quoi faire.« Weil ich kein Französisch kann, ist der einzige Satz, den ich verstehe: »That’s why I wanna be close to you.«
Für einen Moment schiebt Dawna ihre Hand auf meinen linken Oberschenkel und drückt kurz zu. »Alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Klar«, antworte ich rau, obwohl nichts in Ordnung ist. Meine Albträume begleiten mich seit Wochen, ich verstehe sie nicht, sie blitzen auf, bringen mein Herz zum Rasen, meinen Adrenalinpegel zum Steigen. Was sie bedeuten, weiß ich nicht, und ich habe längst aufgehört, darüber nachzudenken.
Dawna reduziert die Geschwindigkeit. Die Straße wird immer schmaler, führt jetzt steil in ein paar Serpentinen nach oben, bis sie schließlich endet. Im Nichts, im Nirgendwo. Kein Licht, das auf eine menschliche Besiedlung hinweist, nicht der matteste Schimmer am Horizont. Als das Motorengeräusch unseres Autos erstirbt und mit ihm das Lied, umgibt uns Stille, die körperlich nach mir greift.
Das soll unser Ziel sein?
Die Autoscheinwerfer, die noch gespenstisch die alten niedrigen Kiefern vor uns beleuchtet haben, erlöschen und für einen Moment ist da draußen nur Dunkelheit, ein schwarzes Loch ohne Konturen. Dann tauchen langsam Umrisse auf, aber mehr auch nicht.
Sie werden euch mit offenen Armen empfangen, höre ich Diegos Worte in meiner Erinnerung, aber die Worte, die mir damals so viel Trost gegeben haben, sind wie aus einer anderen Welt. Ich versuche, mich an Diegos Gesicht zu erinnern, an seine Augen, die Augen des Wüstenhundes. Er, der Wolf, der uns schon unser ganzes Leben lang begleitet hat, konnte und durfte uns nicht folgen.
Das, was wir an sonnigen Frühlingstagen auf Whistling Wing besprochen haben, ist tatsächlich nur noch Erinnerung. Beschützt von den Wölfen Diego und Dusk auf Grannys Farm war es so einfach, an nichts zu denken. Sich mit alltäglichen Dingen zu beschäftigen, Holz zu hacken, bis die Muskeln schmerzten, die Pferde zu versorgen. Der Winter verging uns zu rasch, der Frühling hielt Einzug und nichts erinnerte mehr an das vergangene Jahr, als hätte der schmelzende Schnee alles fortgespült. Als wären die dunklen Engel nur eine bittere Geschichte von vielen bitteren Geschichten, etwas, das in der Vergangenheit wohnt und seine Finger nicht nach der Gegenwart ausstreckt.
»Wo sind sie, die Dunklen?«, hatte ich Dawna gefragt.
Nie hatte ich ein Motorrad vor dem Morrison Motel gesehen. Nie das dumpfe Röhren der Dukes in New Corbie gehört. Sind sie weg? Haben sie aufgeben? War alles nur ein böser Traum?
Erst jetzt hier in Frankreich wird mir so richtig klar, dass es kein böser Traum war. Mit einem Schlag war alles anders. Aus dem Flugzeug ausgestiegen stand die Luft wie eine dicke, feuchte Mauer von Abgasen vor uns. Nicht die klare, reine Frühsommerluft von Whistling Wing, sauber und trocken. Drückender Smog, der mir den Atem nahm, der mich plötzlich zweifeln ließ an dem, was wir uns immer vorgebetet hatten.
Der Gedanke an Diego ist wie ein Anker in eine gute Welt. Er hält uns fest und gibt uns Zuversicht.
Wir stehen hinter euch, hatte Diego immer und immer wieder versprochen.
Aber ich weiß auch, dass wir nicht alle Wölfe hinter uns haben. Chakal, ihr Anführer, will sich nicht mehr an den Vertrag halten. Den Vertrag, den unsere Ururgroßmutter Victoria mit den Wölfen geschlossen hatte, um uns Verbündete gegen die Dunklen zu sichern. Ohne die wir unsere Mission nicht erfüllen können.
Dawna öffnet die Autotür, ein Windstoß fegt herein, es riecht nach Algen, die Luft schmeckt nach Salz. Die plötzliche Kälte lässt mich frösteln. Wir sprechen nicht miteinander, als wir aus dem klapprigen roten Peugeot aussteigen. Bald haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt, die krummen Kiefern drücken sich wegen des ständigen Windes zu Boden. Ein Weg führt zwischen ihnen hindurch, so breit, dass man zu zweit nebeneinander gehen kann. Wir sind beide so müde, dass wir nicht sprechen wollen – vielleicht ist es aber auch einfach die Angst. Was wird uns erwarten? Unser Mutterorden – das Wort klingt pathetisch, vielversprechend. Aber es klingt auch angsteinflößend, denn Granny hat mit dem Orden gebrochen. Der Orden hatte nicht hinter ihr gestanden – wieso sollten sie jetzt
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