Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Türen. Nur hier ist alles still, der Laden verschlossen, der Platz, an dem früher das Schild hing, ist leer, das Holz darunter dunkler, ein Mahnmal, eine stumme Anklage. Sie wendet sich zur anderen Seite. Auch das Murphy’s Law scheint verschlossen, ein paar Kinder sitzen davor in der Sonne, sie tauschen Spielkarten oder Süßigkeiten. Als eines der Kinder mit dem Finger auf sie zeigt, auf sie oder auf das Motorrad, klappt sie das Visier hinunter und gibt Gas. Die Kinder starren ihr noch lange nach.
Sie durchquert das Brachland, von dem erst vor wenigen Wochen die letzten Schneeflecke getaut sind, jetzt wächst das Gras wild, hüfthoch wogt es im Wind zwischen den Ginsterbüschen, die Ebene wird bald vertrocknen, unbarmherzig, so sicher wie der Tod. Sie lächelt bei dem Gedanken und biegt in den langen, gewundenen Weg nach Whistling Wing ein. Ein riesiger, umgestürzter Hickory liegt am Straßenrand, in ungleiche Stücke zerteilt und von der Natur mit überbordendem Grün zurückerobert. Am Tor stehen drei Frauen, schon aus der Ferne erkennt sie, dass die Mädchen nicht dabei sind. Die Mädchen nicht. Die Mutter nicht. Die Schwester nicht. Sie bremst das Motorrad so spät und heftig, dass sie quer zu den Frauen zu stehen kommt und mit ihrem Knie das Bein der blonden, zierlichen Frau berührt. Zu ihrem Erstaunen weicht diese nicht zurück. Sie sehen sich ruhig an, lange.
»Die Mädchen sind nicht hier«, sagt die Frau schließlich.
Wieder dauert es eine gefühlte Ewigkeit. Die beiden anderen, eine junge Frau in einem geblümten wadenlangen Kleid und eine ältere mit stacheligem grauem Haar, verschränken die Arme vor der Brust, was ihr wieder ein freudloses Lächeln abringt.
»Lilli-Thi«, setzt die ältere hinzu.
»Wo sind sie?« Sie macht eine Bewegung aus, auf der Veranda, und verengt die Augen. Die Wölfe. Ein Weißer. Ein Dunkler. Ihre gelben Augen fixieren sie.
»Dusk«, flüstert sie.
Dann schnellt ihre Hand vor und schließt sich um die Kehle der blonden Frau und drückt zu. Schmerz schießt in ihre Schulter, da, wo das Messer sie verletzt hat, Schmerz, der sich wie eine dunkle Wand in ihr ausbreitet.
»Es wird ihnen nichts nützen«, zischt sie.
Die Wölfe setzen sich in Bewegung, doch ehe sie Lilli-Thi erreichen, lässt sie die Frau los und jagt davon.
Die Wölfe verfolgen sie, bis sie Whistling Wing weit hinter sich gelassen hat.
1
Indie
D er Druck auf meine Brust wird unerträglich. Die Stille ist trügerisch, sie verschluckt das Atmen all derer, die um mich herum sind.
Noch weiß ich nicht, woher die Gefahr kommt, ich drücke meinen Rücken gegen die eiskalte Wand und warte. Die Sekunden klingen in meinem Kopf wie eine kleine, helle Glocke. Die neben mir geflüsterten Worte dringen nicht bis in meine Gedanken.
Es gibt nur noch die eine Möglichkeit, höre ich eine fremde Frauenstimme. Eine einzige.
Wir geben euch Feuerschutz.
Mein Herz beginnt zu hämmern. Irgendwie weiß ich, was kommen wird, aber doch wieder nicht. Ich weiß, dass es jetzt darauf ankommt, das Richtige zu tun.
In meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Ein Strudel der Erregung erfasst mich, will mich zum Laufen zwingen, ich kämpfe dagegen an. Noch nicht. Es ist zu früh.
Alles, was eintritt, scheint unausweichlich, schon immer so geplant gewesen zu sein. Geplant von jemandem, dessen Lachen tief in meinem Bauch sitzt.
Etwas rollt klirrend über den Steinboden.
Überall breitet sich roter Nebel aus, Maschinengewehrsalven beginnen zu rattern.
Befehle werden gebrüllt. Befehle, die ich nicht verstehen kann. Ich bin wie gelähmt. Jetzt sollte ich laufen, aber ich kann nicht.
Jemand zieht an meiner Hand, schreit mich an. Meine Schwester.
Ich renne los, Steinplatten unter meinen Füßen. Schneller, höre ich jemanden schreien. Jemand beginnt neben mir, mit einem Maschinengewehr zu schießen. Überdeutlich sehe ich jetzt den Kiesweg unter meinen Füßen.
Ich stoße gegen jemanden, der mich versucht festzuhalten.
Ein Dunkler.
Jetzt endlich kann ich meinen Blick heben. Es ist nicht nur ein Dunkler. Es ist ein Heer von Dunklen, das sich vor mir aufbaut.
Ein Schrei gellt in meinen Ohren. Mein Schrei. Ich reiße die Augen auf und weiß nicht, wo ich bin.
»Indie?«, sagt Dawna neben mir beruhigend.
Schwarz wie Tinte ergießt sich die Nacht über die Landschaft. Natürlich. Ich lehne mich zurück in den Autositz, versuche, den Traum zu verscheuchen, der noch hinter meinen Augen brennt.
Seit Stunden fahren wir durch die
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