Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
hinter uns stehen? Sie hatten Granny nicht geglaubt, dass sich die Weissagung auf unsere Linie der Hüterinnen bezieht. Ein Märchen, nur ein Märchen, das seit vielen Hundert Jahren von den Müttern den Töchtern erzählt worden war.
Vergesst die Worte der Lucille de Fleurs nicht, höre ich Grannys Stimme, ganz leise, als wären sie aus einem fernen Traum.
Sie werden uns glauben, haben wir uns tausendmal am Abend zugeflüstert. Es hat sich alles geändert. Außerdem sind Kat und Miss Anderson hier – auch wenn die zwei Hüterinnen selbst lange Zeit gezweifelt haben, seit sie uns ausgebildet haben, sind sie auf unserer Seite. Nicht nur das, seit dieser Zeit sind auch sie davon überzeugt, dass die Weissagung stimmt.
Wir treten aus dem Wald heraus und bleiben unwillkürlich stehen, der Anblick ist zu gewaltig, gigantisch und beeindruckend. Stechginster erstreckt sich bis zu den Mauern eines riesigen Bauwerks. Fahl bescheint der große Mond die Klippen und das Kloster, das auf ihnen steht wie eine uneinnehmbare Festung. Und neben dieser Silhouette erstreckt sich die Unendlichkeit des Meeres, der Mond wirft eine Lichtbahn auf das bewegte Wasser, beleuchtet gespenstisch einzelne Felsen weit draußen im Meer. Da das Kloster auf der höchsten Klippe gebaut ist, hört man das Wellenrauschen nur dumpf. Weit darunter donnert die Brandung gegen die Klippen, ein Geräusch, das das Gebäude bis in alle Ewigkeit umhüllt.
Ein ständiges Vögelkreischen liegt in der Luft, als würden in den Felsen Unmengen von Möwen brüten. Die Vogelrufe erfüllen mich mit Unruhe. Natürlich sind es nicht die dunklen Engel, die hier auf uns warten. Es sind Möwen. Aber trotzdem erinnern mich die Rufe daran, dass die Dunklen irgendwo auf uns warten. Sie müssen nur warten, denn die Zeit ist auf ihrer Seite. Am 1. August werde ich achtzehn Jahre alt werden. Dann, und nur dann, hat Azrael die Chance, auf die Welt zu kommen. Denn ich bin die jüngere Hüterin, die Hüterin, deren Seele er braucht, um seine Gestalt zu bekommen. Nur wenn es uns gelingt, das Engelstor wieder zu schließen, können wir ihm meine Seele verwehren. Wenn wir aber die Weissagung der Lucille de Fleurs Wirklichkeit werden lassen, werden wir etwas anderes tun. Wir werden ihn aus dem Schattenreich kommen lassen. Und ihn vernichten.
»Denk nicht daran«, flüstert Dawna neben mir.
Sie drückt meine Hand.
»Wir sind nicht mehr alleine«, wispert sie. »Und wir werden nicht alleine sein. Sie alle werden hinter uns stehen – mit all ihrer Macht. Und ihrem Wissen. Wir werden stärker sein …«
Abweisend steht das Kloster vor uns, selbst seine Silhouette wirkt kämpferisch. Die zwei Türme, die hohen dunklen Mauern. Seit Jahrhunderten steht es hier, uneinnehmbar, seit Anbeginn des Ordens in der Hand dieser Frauen, die es verteidigen konnten bis zum heutigen Tag.
Es gibt jetzt kein Zurück mehr, nicht nach der langen Reise, die hinter uns liegt. Dawna nimmt den Türklopfer in die Hand und lässt ihn auf die schwere Eichenholztür fallen.
Die Tür öffnet sich und ich sehe nur die schmale Silhouette einer kleinen Frau vor mir, hinter ihr flackern Kerzen an der Wand.
»Les jeunes filles! Enfin, on vous a attendues il y a des heures – entrez«, sagt sie und schaltet eine Taschenlampe ein. »Permettez-moi de vous regarder.« Sie lächelt ein wenig. »Petit poisson deviendra grand.«
Ich verstehe kein Wort, kann mich aber noch an den Singsang erinnern, wenn Granny manchmal Französisch gesprochen hat, perfekt, wie es mir damals erschien. Mein Blick gleitet an der Frau hinab, sie sieht aus wie eine rundliche, flinke Maus, eine spitze Nase in ihrem Gesicht und rote Bäckchen. Sie ist undefinierbar alt. Vielleicht ist sie sechzig, vielleicht auch hundert Jahre. Auf der Nase sitzt eine schwarze Cateye-Vintage-Brille, sie trägt eine weiße Tunika, die Haare sind streng aus dem Gesicht gekämmt und unter einem weißen Schleier verborgen. Sie streckt die Hand nach uns aus, um uns hineinzuziehen in die Sicherheit des Klosters. Für einen winzigen Moment sehe ich ihre Handfläche. Auch sie hat die Narbe wie wir, das Dreieck mit dem Auge in der Mitte, die Initiationsnarbe aller Hüterinnen.
»Seht auf das Zeichen in eurer Hand, das Auge zeigt, wer ist euch verwandt«, denke ich an das Gedicht und die alte Frau sagt mit einem leichten Lächeln: »Dawna. Indie.«
»Bon soir«, sagt Dawna neben mir, als könnte sie Französisch, und lächelt zurück. Ich kann die Frau nur anstarren,
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